Was soll ich tun, Ariadne? Was soll ich tun, Arthur?

Wie wollen wir leben? Fragen die alten Griechen und neuen Gurus, die Bestsellerregale in Thalia-Filialen und die Algorithmen bei Amazon. Es gibt Apps zur temporären Blockierung des Internets (oder man setzt sich in einen Fernbus mit angeblichem WLAN) und Apps zur analogen Zusammenführung (siehe unten). Es gibt Detox-Camps und Sabbaticals in Schweigeklöstern. Vielen dieser Ideen gemein ist die Erkenntnis, dass es nicht glücklich macht, ein Rädchen ohne Reibungsfläche im wenn nicht bösen, so doch undurchschaubaren System zu sein. Ebenso wenig glücklich macht der Komplettumzug in die digitale Welt. Es braucht wenigstens einen Zweitwohnsitz im Analogen. Was sonst noch helfen könnte, wissen diese Fünf.

I) Henry David Thoreau, Schriftsteller und Philosoph (Teilnehmern des theaterwissenschaftlichen Seminars eines besonders anarchisch gepolten Dozenten bekannt als Verfasser der Pamphlets “Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat”), entfloh der Alltagshektik, indem er in eine Waldhütte zog. Das war 1845. Thoreau besaß kein Smartphone, das er in den Flugmodus schalten musste, stattdessen las er und schrieb sein Buch “Walden.” Ganz auf sich allein gestellt, lebte er von dem, was die Natur ihm gab. Ein bisschen wie der Protagonist in “Her”, mit dem Unterschied, dass Letzterer sich mit seinem virtuellen Gspusi vergnügt, was bedeutet, dass die Zukunft WLAN im Tannenwald bringen wird. Nach einem Jahr erklärte Thoreau sein Experiment für gescheitert. Soweit ich mich erinnere, weil ihm langweilig war.

II) Miranda July, Autorin, Schriftstellerin, Regisseurin, Mutter, hasst ihre Unaufmerksamkeit für die sie umgebende Welt. „Wie zwanghaft“ kontrolliere sie ständig ihren Twitteraccount und wahrscheinlich flattern die Emails nicht bloß alle fünfzehn Minuten ins Postfach.  Am erschreckendsten ist für July die Erkenntnis, dass sie “ohne Tablet eine bessere Mutter wäre.” Wahrscheinlich stimmt das sogar, lassen ihre vielen Berufsbezeichnungen doch auf eine Multitaskingvorliebe schließen. Aber hey, Miranda July hat die App Somebody-App erfunden, die eine Aufforderung ist zur analogen Begegnung. Wer sie installiert, ist entweder Sender oder Empfänger einer Textnachricht, die nicht als Sms übermittelt wird, sondern mündlich, real, face to face. Als Kind wäre ich stolz auf eine Mutter, die sich solche tollen Sachen ausdenkt.

III) Janosch, Zeichner, Kultfigur, neuerdings Kolumnist des Zeit Magazins, antwortet auf die Frage, wie man dem Trübsinn des Novembers entkommen kann, dieses:

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Via Zeit Magazin

IV) Cosima von Bonin, Künstlerin, hat kein Interesse an permanenter Effizienz. Ihre Werkgruppe „Fatigue Empire“, derzeit im Wiener Mumok zu bestaunen, ist bevölkert von überdimensionierten Stofftieren in allerlei unpässlichen Situationen. Ein Küken mit Augenklappe und Erbrochenem auf der Brust, ein hingestreckter Hase, zusammengesunkenes Meeresgetier, schlaff wie Gummitierchen, aus denen Luft entweicht.  Kümmerliche, liegengebliebene Partygäste, die die Kurve nicht gekriegt haben. Den Rausschmeißsoundtrack liefert der DJ und Künstler Moritz von Oswald. Quer über den Ausstellungsraum verteilt hängt er transparente Halbkugeln, wie aufgespannte Regenschirme. Steht man direkt darunter, geht ein Soundgewitter auf einen nieder. Bässe trommeln, Soundtropfen prasseln. Rausschmießmusik klingt anders, hier will man bleiben.

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Cosima von Bonin, “The Fatigue Empire”

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Cosima von Bonin, “The Fatigue Empire”

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Cosima von Bonin, “The Fatigue Empire”

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Cosima von Bonin, “The Fatigue Empire”

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Cosima von Bonin, “The Fatigue Empire”

Je länger man diesen Tierchen beim Hängen-Bleiben zusieht, desto mehr beneidet man sie. Ein solch smoothes Nichtstun ist dem Mensch im Machbarkeitsmodus total abhanden gekommen. Trägheit ist eine Todsünde und wie sehr wir alle das verinnerlicht haben, dürfte den Vatikan zum Jubilieren bringen. Sicher ist, dass Bonins Plüschentourage eine gute Zeit hatte. Dass sie sich davon erholen muss, liegt in der Natur des Tieres, wie der des Menschen. Keine Party ohne After-Hour, da wären sich Cosima von Bonin und Ariadne von Schirach glaube ich einig.

V) Ariadne von Schirach, Autorin, Philosophin, Kritikerin, fordert Subversion. Ungehorsam gegen den Staat sollen wir sein (es weht der Geiste Thoreaus), in weniger zweideutigen Worten heißt das „Fick das System.“ Ihr Buch “Du sollst nicht funktionieren” ist ein Plädoyer für weniger Effizienz und mehr Achtsamkeit, allerdings nicht im Sinn von Yoga und Green Juices. Statt etwas zu jagen, das wir nicht fassen können, nämlich ewige Jugend, sollen wir die Endlichkeit des Lebens anerkennen. Zuallererst, indem wir den Tod zurück ins Leben holen. Es stimmt ja, dass wir alle sterben müssen, was ein Wahnsinn ist. Sich ab und an daran zu erinnern, hilft, die wesentlichen Dinge des Lebens zu sehen.

Vor allem hilft es, nicht nur sich selbst zu sehen. Dass wir in einer narzisstischen Gesellschaft leben, beweist nicht nur das Selfie als Wort des Jahres. Selbiges gilt für den Altar, den wir unserem Körper bauen, das scheinbar mühelose Diäten und Work-Outen, das nichts wert ist ohne den fremden Blick, weswegen ständig davon Zeugnis abzulegen ist. “Während Schön-Sein schon anstrengend genug ist, ist Schön-Aussehen ein Full-Time-Job, der die nachwachsenden geistigen Ressourcen der westlichen Welt zu großen Teilen mit Beschlag belegt.“ Welchen Ursprung hat dieser „Iconic Turn“, das Teilen (dank der sozialen Netzwerke ein vom altruistischen Aspekt nun vollständig befreites Verb) all unserer superguten Erlebnisse auf Facebook? Das zwanghafte Festhalten jedes gelungenen Moments? Ist es die Angst vorm Verschwinden? Über jeder Existenz liegt heute ein Farbfilter, der das Positive zur Geltung bringt und das Schlechte überdeckt. Die Folge ist das Unbehagen des Einzelnen angesichts des Glitters der Vielen. Warum haben alle so viel Erfolg? Anstatt dieses Unbehagen auszusprechen, posten wir ein Foto der letzten Partynacht.

Dabei geht es doch allen gleich, sie müssten nur mal reden. Reden tun sie ja, allerdings nicht miteinander, sondern mit ihrem Therapeuten. Von Schirach zufolge hat jeder Mensch Tiefen, die nicht erkundet, Geheimnisse, die nicht gelüftet werden können. „Hier sind nur Atem und Neugier und Sehnsucht. Hier sind auch Trauer und Schmerz und Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Sich selbst zuzuhören, ist etwas ganz anderes, als sich selbst zu erforschen, zu bewerten und darzustellen.“ Wer auf der Couch liegend über seinen Ödipuskomplex sinniert, hat keine geistigen Kapazitäten für die Sorgen seiner Nächsten. Vor allem darum geht es der Autorin. Abgesehen davon, dass wir unseren Instinkten vertrauen sollen – denn der Körper weiß, was gut für ihn ist – helfe es, den Blick nach außen zu wenden, auf die Freuden und Leiden der anderen. “Lebendig zu bleiben heißt, empfindsam zu bleiben für fremdes Leben, fremdes Leiden und fremde Freude.“

Von Schirachs Philosophie ist nah an der eines Robert Pfallers und damit so viel sympathischer und lebensnaher als die von Gesundheits-Gurus wie Gwyneth Paltrow. Robert Pfaller, Philosoph, nennt in “Wofür es sich zu leben lohnt” den Rausch als zutiefst menschliches Erlebnis. Eine Gesellschaft, die diesen verdammt, sei dem Untergang geweiht. Zigaretten, Alkohol, Drogen, Fleisch, Zucker, von glatter Porno-Ästhetik abweichende Sexualität sollen nach Ansicht vieler Zeitgenossen umgehend und unwiederbringlich von der Erde verschwinden. Zum guten Leben gehört aber, darin sind sich Pfaller und von Schirach einig, unter Umständen auch eine Zigarette und ein Glas Whiskey. “Was ist die Nacht ohne Hingabe?“ Ein von allen Unannehmlichkeiten bereinigtes Leben ist nicht erstrebenswert. So ist “Du sollst nicht funktionieren“ auch ein Lob der Dialektik: Kein Rausch ohne Kater, keine Liebe ohne Risiko, kein Leben ohne Tod.

Ariadne von Schirach kann blinkende Welten herbeischreiben und schillernde Zwischenzeilenutopien, die allerdings selten konkrete Formen annehmen. Menschen begegnen, aber wie? Großherzig sein, aber auf welche Weise? Als Leser fühlt man sich wie das quengelnde Kind, das sich mit der Unendlichkeit des Universums nicht zufrieden geben will, egal wie schön der Erwachsene von den Sternen erzählt.

Etwas läuft schief, keine Frage. Was aber fange ich mit diesem Wissen an? Was soll ich tun, Ariadne?

VI) Arthur Rimbaud, Schriftsteller, Dichter, führte ein ausschweifendes Leben im Paris des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit als Zukunft noch nach Verheißung klang. Man tinderte nicht, sondern begegnete seinen zukünftigen Liebhabern auf der Straße und in kleinen verrauchten Cafés, nur um kurze Zeit später von der Syphilis dahingerafft zu werden. Die Menschen hatten Angst vorm Sterben und darum lebten sie. Als ob er es nicht gewusst hätte, fragte Rimbaud seinen Freund Arthur Schnitzler, Schriftsteller, Dandy, Erotiker („Der Reigen“): “Was soll ich tun, Arthur?” Und Schnitzler antwortete: “Du fragst mich, was soll ich tun? Und ich sage Dir, lebe wild und gefährlich Arthur.” Als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Und wahrscheinlich ist sie das.