Bei Shakespeare verlieben sie sich in Esel

– Siri, was ist Liebe?

– Schau mal, was ich hier gefunden habe.

– Nein Siri, ich will Deine Meinung wissen. Was glaubst Du, ist Liebe?

– Ich bin nicht so sehr politisch, eher poetisch.

Trottel der Gegenwart stellen ihrem Smartphone philosophische Fragen. Trottel der Zukunft verlieben sich in dessen Stimme. In Spike Jonzes Film “Her” geht der Protagonist (Joaquin Phoenix) eine nicht bloß platonische Beziehung mit einer künstlichen Intelligenz ein in Gestalt einer erotischen Frauenstimme (Scarlett Johanson). Die Beiden machen all das, was Paare tun, sie fahren gemeinsam Riesenrad, übermitteln sich kleine obszöne Botschaften, gestehen sich ihre Ängste ein und ihre sexuellen Fantasien. Das ist nur auf den ersten Blick befremdlich. In Wahrheit schielt Jonze zum Ende jenes Weges, den Tinder, Grindr, Skype schon jetzt bereiten. Vielleicht ist das nicht einmal das Unglück, als das wir es begreifen.

Angesiedelt ist “Her” in einer nicht allzu fernen Zukunft. Fünfzig oder hundert Jahre, maximal. Der Protagonist Theodore Twombly ist ein Großstadtbewohner neuen Typs, der bereits jetzt in entschärfter Form in den Filterkaffeeküchen dieses Landes sein Unwesen treibt. Single, gutverdienend, einsam. Die Schmerzensmann-Debatte ist beendet, einer wie Theodore schämt sich nicht seiner Tränen. Ganz unbefangen befielt er im Feierabendverkehr seinem Smartphone “spiele melancholischen Song”, während sein Blick sich im Ungefähren verliert. Außerdem liebt Theordore gedruckte Bücher. Zuschauer mit derselben Neigung lesen das als positiven Kommentar zur E-Book-Diskussion. Das gedruckte Buch wird nicht sterben!

Überhaupt steckt die in “Her” entworfene Zukunft voll guter Nachrichten. Eine davon: die Welt wird wieder schöner. Nachdem die Menschheit die 80er und deren Revival ertragen musste, die 90er (“If Britney made it through the nineties, you can make it through this day”) und die großflächige Kultivierung des schlechten Geschmacks  der Nuller-Jahre (Crocs, Taschen mit Städtelogo), ist sie im Jahr pimaldaumen 2100 bei sich selbst angekommen. Ähnlich wie in Leif Randts literarischer Utopie “Schimmernder Dunst über County” scheint der gute Geschmack bei Spike Jonze eine Art staatsbürgerlicher Pflicht geworden zu sein. Warum nicht, sagt sich der Zuschauer angesichts von mit Mosaiksteinen verzierter und graffitifreier U-Bahn-Stationen, von weitläufigen Piazzas aus hellem Sandstein und filigranen Wolkenkratzerappartments. Empfangsräume in Kreativbüros sehen aus wie die Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin. U-Bahnen fahren wieder oberirdisch.

Überhaupt haben sich sämtliche futuristische Befürchtungen zerstreut. Büros haben keine Ballschwimmbäder, Fitnessräume oder variable Bubble-Elemente, nicht einmal einen Tischkicker, stattdessen große Fenster mit verschiedenfarbigen Folien, Wandtrennelemente in mintgrün und eine zurückhaltende Möblierung, welche die guten Seiten der 50er und 70er vereint. Diese Jahrzehnte geben auch den Dresscode vor. Alle, einschließlich Theodore, tragen gut Geschnittenes in Nudetönen, die Perfektionierung dessen, was unter dem Begriff Normcore gerade schick wird. Rein optisch behält “Mad Men” recht – in manchen Fällen war früher eben doch alles besser. Dazu passt, dass der Regisseur seinem Werk einen Retro-Farbfilter überstülpt. Leben im Weichzeichner-Modus.

Noch eine gute Nachricht: Die Natur hat sich entgegen aller Vorhersehungen gehalten, man kann immer noch im Geiste von “Into the Wild” ins Nichts aufbrechen, nur dass es selbst in diesem Nichts jetzt WLAN gibt. Im Gegensatz zu heute, wo Familienurlaube deswegen in die Hose gehen, weil die panische Frage des eben im Hotel angekommenen Vaters nach dem WLAN mit “Nein” beantwortet wird.

Die schlechte Nachricht: noch wurde die Datingkultur nicht abgeschafft oder durch etwas Effizienteres ersetzt. Noch immer führen sich Alleinstehende gegenseitig in “angesagte” Restaurants aus, noch immer müssen sich beide Partien Mut antrinken, bis es zum Austausch von Körperflüssigkeiten kommt, noch immer wartet die Frau vergebens auf den Anruf des Manns. Das Modell der monogamen Paarbeziehung hat sich gehalten, Theodores Freundin Amy, die Videospiele für Helicoptereltern designt, führt dessen Scheitern vor. Theodore selbst war sogar verheiratet, wobei die Scheidung von seiner Frau Catherine tiefe Spuren hinterlassen hat. Wenn er nicht schlafen kann, bedient Theodore die Würgefantasien anonymer Telefonchatpartnerinnen. Es geht um Katzenschwänze.

Dass Theodore im realen Umgang mit Frauen Pech hat, kann nicht an seinem Erscheinungsbild liegen, schließlich gehört sein Darsteller Joaquin Phoenix zu den mit verwegener Attraktivität gesegneten Hollywoodschauspielern. Einziges Manko ist der Schnauzer aka Pornobalken, der weibliche Zuschauer wiederholt dazu verleitet, mit der Handfläche die Hälfte des Fernsehbildschirms abzudecken, um sich vorstellen zu können, um wie viel besser der Protagonist ohne Bart aussehen würde. Das nur am Rande.

Natürlich ist Theodores verkorkstes Verhältnis zu Frauen auf den gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhang zurückzuführen. Reale Nähe wird zum Problem in einer Welt, in welcher das Smartphone den smarten Flirt ersetzt. Wenn alle mit gesenktem Blick durch die Straßen gehen, entfallen Blickkontakte. Wenn sich die Konzentration auf die Stimme aus dem Headset richtet, ist für Face-to-Face-Kommunikation kein Platz. Menschen, die Selbstgespräche führen, fallen in “Her” gar nicht mehr auf, weil alle Selbstgespräche mit ihrem Smartphone führen. Daraus ist zu schließen, dass die Worterkennung zwischenzeitlich perfektioniert wurde und, anders als heute, Siri nicht mehr aus “schreibe eine SMS an Karlotta” “fein gegessen bei Karl Otto” macht.

Kurzum: Theodore ist nur minimal mehr sozial behindert als seine Mitmenschen. Entsprechend neugierig reagiert er auf jene künstliche Identität, die sich Samantha nennt und ihm von nun an als eine Art Siri-Upgrade zur ständigen Verfügung steht. Im Original leiht Scarlett Johanson dieser Samantha ihre Stimme und manch männlicher Zuschauer wird gewiss in seiner Vorstellung deren begehrenswerten Körper ergänzen. Es kommt, wie es kommen könnte: Theodore verliebt sich in die Stimme aus seinem Headset.

So unrealistisch, wie das auf den ersten Blick scheinen mag, ist es nicht. Genau genommen taugt es nicht mal als Dystopie. “Jeder, der sich verliebt, ist ein Freak” heißt es an einer Stelle im Film. Bei Shakespeare vergucken sich Menschen in Esel, warum also nicht in eine erotische Stimme, zumal sie total im Einklang mit den eigenen Befindlichkeiten steht? Letztendlich ist das wie eine Telefon- oder Postkarten-Liebe in Prä-Smartphonezeiten. Der Vergleich hinkt? Projektion heißt das Zauberwort. Romantiker der Marke “hoffnungslos” neigen dazu, alles zu idealisieren. Je weiter der Gegenstand ihrer Sehnsucht entfernt ist, desto reibungsloser schnurrt die Projektionsmaschine. Warum nicht diese Sehnsucht auf eine Stimme projizieren? Noch dazu, wenn die dazugehörige Frau bis in alle Ewigkeit von Cellulitis und Augenringen verschont bleiben wird?

Virtuelle Liebe, virtueller Sex – warum nicht? Was ist mit den Millionen Paaren, die bereits heute ihr Begehren via Skype am Leben erhalten? Was ist mit Tinder? Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass wir an der Supermarktkasse dreißig Gesichter pro Minute beiseite wischen, in Erwartung der sogenannten großen Liebe? Manche wittern Abstumpfung, erotischen Ausverkauf, emotionale Eskalation; es werden weniger. Noch echauffieren sich Grindr-Nutzer (die Tinder-Entsprechung für Homosexuelle) über mangelnden Datenschutz. In fünfzig Jahren lockt das vielleicht keinen müden Hund mehr hinter dem analogen Ofen hervor.

Neben der unserer Gesellschaft möglicherweise bevorstehenden Vereinzelung, streift “Her” auch feministische Belange. Die Beziehung von Theodore und Samantha durchläuft zwar die klassischen Stufen einer Beziehung inklusive “ich bin nicht bereit für was Ernstes”-Gequatsche, zerbricht aber an Samanthas sich exponentiell steigernder Intelligenz. Schöne Ironie: je klüger Samantha wird, desto weiter entfernt sie sich von Theodore. Ja mei, die Information “der Server antwortet nicht” ist dann halt die Entsprechung des “Bin Zigaretten holen.” Finaler Trennungsgrund ist allerdings Samanthas Untreue. Neben Theodore flirtet sie mit 641 anderen Männern, zeitgleich; das ist auch eine Leistung. Weibliche Promiskuität wird also auch in hundert Jahren noch mit Verlassen werden bestraft.

Was ist die Lösung? Leute beiseite wischen, bis die Daumensehnenscheideentzündung kommt? Jetzt endlich mit dem Online Dating beginnen? Auf die Romantik bauen wie Theodore, gleich auf welchen Gegenstand sie sich bezieht? Samantha fragen? “Das Herz ist keine Box, die irgendwann voll ist, sondern wird größer, je mehr man liebt.” Mit diesen Worten entlässt die künstliche Intelligenz ihren Besitzer. Theodore bleibt zurück als der romantische Trottel, der an die Liebe glaubt.