Zur Ästhetik des Falschen in “2011”

Schönheit und Wahrheit Doppelpunkt Schönheit ist nicht immer wahr und Wahrheit ist nicht immer schön Komma leider. So weise gesprochen haben das Ratte und Bär, die Protagonisten in dem wunderbar wahren und schönen Film “Der rechte Weg” des Schweizer Künstlerduos Fischli und Weiss.

Wahre Schönheit kommt von Innen, aber zu einer Zeit in der – Achtung, Kulturkritik! – Schönheit zum Produkt, sprich Ware umgewandelt werden kann, scheint dieses doch so grundvernünftige Sprichwort, gerne von besorgten Müttern gebraucht im Umgang mit ihren von Selbstzweifeln geplagten Töchtern, fragwürdig geworden. Wie anziehend ist Wahrheit? Wie unumgänglich? In der Folge dieser Kausalkette kommt man nicht umhin zu fragen, wie groß der Wunsch nach unbedingter Wahrheit ist oder anders: Übt das Un-Wahre, also das Falsche nicht einen ungleich größeren Reiz aus?

Stichwort Inszenierte Fotografie. Um dem unreflektierten Namedropping, das an dieser Stelle folgen könnte, vorzubeugen, vielleicht auch als schöner Bezug zu früheren Überlegungen, an die sich der aufmerksame Leser vielleicht erinnern mag, zunächst einmal die Anerkennung der beinahe uneingeschränkten Möglichkeiten zeitgenössischer Fotografie. Die Zeiten, in denen sie als prototypisches Dokument der Realität galt, sind schon lange vor der digitalen Revolution zu Ende gegangen. Moholy-Nagys traumwandlerische “Photogramme” bewegen sich an der Grenze zwischen Malerei und Fotografie. Mit dem Aufkommen neuerer Techniken werden Bildbearbeitung und der Spielraum, in dem sich etwas, das noch immer unter dem Stichwort Foto firmiert, bewegen kann, immer variantenreicher. Künstler wie Andreas Gursky nutzen gezielt die Möglichkeiten von Photoshop und Co., um unsere Wirklichkeit, der es an Megalomanie wahrhaft nicht mangelt, noch um ein Vielfaches zu übersteigern. Wie exakt fügen sich die verschiedenen Blautöne in Gurskys “Siemens, Karlsruhe” zusammen? Wie akurat sind die Reihen der Arbeitsplätze tatsächlich? Verdankt sich die Poesie, die den anmutig von der Decke baumelnden Kabeln innewohnt, der Stilsicherheit des Architekten? Oder den Fertigkeiten des Fotografen im Umgang mit Bildbearbeitungsprogrammen? Wo verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion? Gerade die Unklarheit, in der der Betrachter zurückgelassen wird, ist die Stärke dieser Bilder. Zweifel schlägt Gewissheit, denn ein offensichtlich aufs Ärgste manipulierte Foto, wie dies bei Gurskys Bildwelten der Fall ist, vermag es nicht unsere Aufmerksamkeit in gleicher Weise zu fesseln.

Eine weitere Spielart des Falschen ist die fotografische Inszenierung. Jeff Wall kann als Paradebeispiel derselben gelten, denn seine aufwändig arrangierten Szenerien nähern sich in ihrer Perfektion dem Wesen von Filmsettings an. Unweigerlich stellt sich dem Betrachter von Walls Fotos die Frage nach deren Wahrheitsgehalt. Die abgebildeten Personen erfüllen dabei stets die Funktion von Stellvertretern, deren undurchsichtige Präsenz auf eine Mehrdeutigkeit ihrer Anwesenheit schließen lässt.

Bei den Fotos der Serie “2011” geht es nur bedingt um digitale Bearbeitung. Zwar geben sie ihr Geheimnis ebenso wenig preis, wie die oben beschriebenen Arbeiten von Gursky. Wie rosig getönt der Himmel am Abend, an dem “Heiligensee, Januar” entstand, tatsächlich war, weiß der Betrachter nicht und auch nicht, wie stark sich die Silhouette des Modells vor diesem Abendhimmel tatsächlich abhob. Es spielt aber auch nur eine geringe Rolle, wenn man glauben mag, dass dem Farbspektrum nachgeholfen wurde. Der eigentliche Fokus der Fotos liegt auf seinem Bildgegenstand, der sich uns beinahe hermetisch verschließt. Wie uns die, bildlich gesprochen, Gesichtslosigkeit des Porträtierten in “Heiligensee, Januar” verstört, so irritiert uns die scheinbar sorglose, flüchtig festgehaltene Stimmung der Gruppe in Männerabend, Februar, der man ihre Unbekümmertheit nicht so recht abnehmen mag, schon deshalb nicht, weil sie in so offensichtlicher Beziehungslosigkeit zueinander stehen.

“Family Reunion, März”: Welche Art von Familie ist hier anzutreffen? Unschwer erkennt man die Protagonisten vorangegangener Aufnahmen wieder, zwei weitere Personen sind dazugekommen. Die Szene, die in ein surreales rosa Licht getaucht ist, wirft erneut die Frage auf, welcher Art von Zusammenkunft wir hier Zeuge werden. Der junge Mann am rechten Bildrand steht stramm und hält seinen Schirm – offensichtlich regnet es nicht! – akurat in die Höhe, während sein Gegenüber lächelnd gestikuliert. Die beiden Personen im Vordergrund scheinen andächtig dem Dritten im Bunde, der sich dem Betrachter im Profil darbietet, zuzuhören. Oder hängen sie eigenen Gedanken nach? “Family Reunion, März” geht der Frage nach, wie weit Kommunikation, die über bloße Suggestion einer Beziehung hinausgeht, möglich ist. Das Ergebnis gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Die Familie kann nicht zueinander finden.

Ihren Höhepunkt findet die bildgewordene Relationslosigkeit dann in “Band Meeting, April”, dem vorläufig letzten Bild der Serie. Der Dachboden als Ur-Ort des Unheimlichen ist hier Kulisse einer Versammlung, deren Sinn und Zweck sich uns erneut nicht erschließen will. Im Untertitel werden die Personen als “The Innocent One”, “The Fierce One”, “The Awestruck One”, “The Creepy One” und “The Casual One” vorgestellt. Haben wir es hier mit einer Typologie, einer Charakterstudie zu tun? Gar mit einem Versuch der Kategorisierung im Stil der vier Säfte und den daraus abgeleiteten Temperamenten? Wieder ist es die offensichtliche Beziehungslosigkeit der Dargestellten, die den Betrachter herausfordert. Jeder für sich verkörpert einen Typus, dessen Eigenheiten es ihm nicht erlauben, auf die anderen zuzugehen. Die groteske Anordnung und das rätselhaft-düstere Setting mit seinem diffusen Lichteinfall, der aufs Trefflichste die Gesichter der Personen in der linken Bildhälfte ausleuchtet, erinnern an das ungute Gefühl, das einen bei der Betrachtung von Cindy Shermans Spielen mit der Verwandlung überkommt. Deren Kostümierung verhält sich analog zur Artifizialität der Protagonisten in “Band Meeting, April” und führt zur erneuten Frage nach dem fotografischen Wahrheitsgehalt. Und zu der Vermutung, dass es gerade die Nivellierung dieses Wahrheitsgehaltes ist, der den Reiz der Aufnahme begründet.

Die Fotos laden uns dazu ein, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Sie wollen, dass wir ihnen Fragen stellen, ihre Geschichte formulieren. Aber in wieweit wollen sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden?

Hilfreich könnte die Untersuchung ausgewählter Arbeiten des niederländischen Malers Vermeer sein. Dessen Genreszenen, die zur Blütezeit der niederländischen Malerei entstanden, versammeln oftmals ein gleichwohl absurdes Personal, insofern als dass der Betrachter im Unklaren über deren Charakter und Verhältnis zueinander gelassen wird. Insbesondere “Band Meeting, April”, das gekonnt die Vermeer’sche Stimmung einfängt, kann als digitales Pendant zu den Bildern des niederländischen Meisters gelten.

Was den Titel der Serie betrifft, ist dieser nur ein weiterer Index für deren Rätselhaftigkeit. Geht es bei “2011”, wie die erste Vermutung nahe legen mag, um die Dokumentation eines Kalenderjahres? Oder ist die Ziffer nichts weiter als ein Stellvertreter und wir bewegen uns längst auf einer abstrakteren Ebene? „Abstrakt“ kann und muss dabei als Platzhalter gelten für das Falsche. Weder die einzelnen Titel noch eine detaillierte Analyse des Dargestellten helfen, die Wahrheit „ans Licht” zu bringen. Anstatt jedoch bloß die Un-Wahrheit zu illustrieren, kehren die Fotos den Anspruch der Objektivität ihres Mediums um und werden zu Metaphern des Falschen.

Zur absurden Logik von “2011” und gleichfalls jener dieses kleinen Essays passt es, wenn sich nun der Leser am Ende fragen wird: Wo finde ich sie denn, diese Fotos? Wer ist der Künstler? Existieren sie überhaupt? Wenn die Autorin antwortet: Du musst danach suchen! dann lohnt es sich, ihrer Aufforderung nachzukommen und das Falsche im Richtigen zu entdecken. So wahr, so wahr! Ganz im Sinn von Ratte und Bär.