Zum Twittern aufs Klo: der (eventuell!) letzte Abend im 12-Spartenhaus

Die längste Nach des Jahres will man, Kritikerin hin oder her, eigentlich nicht im Theater verbringen. Zumal in ganz Berlin die Fête de la musique gefeiert wird und es so einladend vom nahe gelegenen Mauerpark herüber wummert. Ich könnte Waffeln essen gehen oder tanzen oder in der Sonne liegen. Kurzum: Es zieht mich nicht gerade in Richtung Prater. Kurzzeitig spiele ich sogar mit dem Gedanken, mein Ticket zu verkaufen beziehungsweise es umzutauschen. Schließlich gibt es diesen Monat noch drei weitere Termine und darüber hinaus soll das 12-Spartenhaus in die neue Spielzeit hinüber gerettet werden.

Seit Wochen scheint die Theaterstadt Berlin kein anderes Thema zu haben als dieses 12-Spartenhaus im Prater der Volksbühne. Schockierend soll es sein, mutig, wuchtig. Erwartungen werden geschürt und gleich wieder enttäuscht und das Publikum ganz schön gefoppt. Letztes Jahr spukte Vegard Vinge schon mal durch die Volksbühne und wurde sogar mit einer Einladung zum Theatertreffen geadelt. Bis dieser “John Gabriel Borkman” in meinen Aufmerksamkeitsradius geriet, waren jedoch alle Vorstellungen restlos ausverkauft. Anders das 12-Spartenhaus: Selbst an der Abendkasse gibt es noch Karten. Wenn aber auch der letzte sensationsgeile Quartalstheatergänger ein Ticket erhält, nutzt sich dann der Reiz nicht ab?

Mit Blick auf die von Einheimischen als “Castingallee” belächelten Kastanienallee wartet das Publikum vor dem Prater auf Einlass. Aus den umliegenden Spätis und Hotdog-Buden wird Proviant heran geschafft. Wehmütig nehme ich Abschied vom flutenden Sonnenlicht. Mit meinem vagen Vorhaben, möglicherweise nicht bis zum rund zwölf Stunden entfernten Ende hier zu bleiben, stoße ich auf Unverständnis. Ästhetische Überforderung light, das scheint gar nicht zu gehen. Kurz nach sechs schnürt das Praterpersonal rote Bändchen um Handgelenke und bittet hinein. Im Foyer ist es schummrig und so schwül wie in einer Sauna, die länger nicht gereinigt wurde. Mehrere im Raum verteilte Leinwände übertragen Szenen aus anderen Räumen. Einige doppeln sich, sind also für die Zuschauer auch unmittelbar zu sehen, andere wie das Büro der künstlerischen Leitung befinden sich im (noch) verschlossenen Teil des Gebäudes. Über der Kasse, vor der sich sofort eine Schlange bildet, thront ein verglastes Kabuff. Ein Schauspieler mit Gummimaske und Hakenkreuzbinde haut auf eine dieser altmodischen Kassen ein, deren Kling zum Synonym für Warenprozesse geworden ist (man denke nur an Shania Twain!), schreit “Das Geld! Das Geld!” und wirft mit Scheinen um sich. Daneben führen hinter einer Tür zwölf Stufen zum Theatersaal hinauf. Auf den Stufen lauert ein weiterer Schauspieler im Wagner-Shirt und plärrt von Zeit zu Zeit “Das Publikum! Das Publikum!” Die Tür davor ist zu.

Zur Premiere Anfang Mai stand das Publikum schon einmal vor verschlossener Tür. Nach vier Stunden wurde der erste Abend im 12-Spartenhaus für beendet erklärt. Ein großer Wurf, der manche Kritiker erheiterte, andere in Aufruhr versetzte und unser Lieblingsmedium Bild dazu verleitete, über “Publikums-Verarschung” zu mosern (vielleicht hat deren Kritiker es nicht verstanden…?). Sukzessive öffneten sich in den kommenden Vorstellungen weitere Teile des 12-Spartenhauses, erst das Foyer, dann die psychedelisch bekritzelten Korridore, das Badezimmer, die Kantine. Was in den Räumen vor sich ging, changierte zwischen Ekel-Theater und kluger Persiflage auf den Bühnenbetrieb. Mal wurden Eimer voller “Intendantensperma” ausgeschüttet, mal mit “Kunstkacke” hantiert. Kürzlich soll gar das Volksbühnenpersonal mit einem Feuerlöscher traktiert worden sein. Kein Abend glich dem anderen. So hält man eine halbe Nachtkritik-Redaktion auf Trab!

Während es aus dem Off “Das Publikum! Das Geld! Die Drrrrrrrrrrrramaturgie!” plärrt, füge ich in Gedanken hinzu: Das Smarrrrrrrrrrtphone! Denn überall um mich herum flimmern Bildschirme, Fotos werden geschossen, Videos gedreht. Es ist der von jeder Art Öffentlichkeit vertraute Anblick der kollektiv nach oben gereckten Arme (die Nähe dieser Geste zum Hitlergruß: eine gewagte, aber richtige These), die aus einer Art Vogelperspektive versuchen, so viel wie möglich vom Geschehen festzuhalten. Rücksichtsvoll wie ich bin, hatte ich mich nämlich noch gefragt, als wie unverschämt das Livetickern aus dem Theater heraus empfunden wird. Jetzt weiß ich: Die Logik des geteilten Moments greift im 12-Spartenhaus wie überall sonst. Keiner muss hier zum Twittern aufs Klo.

Es ist unerträglich heiß und unerträglich laut und die Substantive in Endlosschleife erfüllen ihren Zweck der Totalüberforderung. Mir fällt das geflügelte Wort meiner Mama ein “der Teufel kommt in allerhand Gestalten”, welches sie benutzt, wenn sie gar nicht mehr weiß, wie sie ästhetische Erfahrungen einordnen soll. Meine jahrelange Clubsozialisation bringt gar nichts, so unbarmherzig bohrt sich das Geschrei der Darsteller in den Gehörgang (ich konstatiere, dass ich zum ersten Mal überhaupt im Theater Gebrauch von den beim Einlass verteilten Ohrstöpseln mache). Vom Lärmpegel abgesehen passiert wenig. Vorerst bleibt dem Zuschauer nichts übrig, als sich nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz auf den wenigen Quadratmetern hin- und herzubewegen. Schwarmitelligenz heißt: Einer steuert mit raschem Schritt auf eine Ecke des Raums zu, andere folgen ihm in der Hoffnung, dort könnte mehr los sein, bis auch noch die Nachzügler auf den Bänken stehen, um etwas sehen zu können. Dabei passiert das Wesentliche wahrscheinlich gerade in der entgegengesetzten Raumecke, weswegen sich der Strom schnell dorthin bewegt. “Es ist wie im echten Leben, da kann man auch nicht überall sein”, bemerkt jemand neben mir.

Dann passieren sehr schnell sehr viele abscheuliche Dinge. Das abscheulichste zuerst: David Guetta singt, das heißt sein unerträglicher Billigtechno pulsiert durchs Foyer; nie war ich dankbarer für die Ohrstöpsel in meiner Tasche. Der Maskenmann, der bisher bewegungsarm auf den Treppenstufen ausharrte – es ist Vinge selbst –, beginnt plötzlich mit einer Axt die Wand zum Foyer einzuschlagen. Alle strömen auf die entgegengesetzte Seite. Jemand seufzt “das würde ich auch mal gerne machen” – klar, dass da schlummernde Gewaltfantasien im Zuschauerhirn abgerufen werden. Als in der Wand drei Löcher klaffen, lässt der Berserker von seinem Werkzeug ab und verschwindet. Kurz darauf kehrt er mit einem Zettel zurück; es scheint sich um einen Arbeitsvertrag zu handeln. Wiederholt bringt er seinen Vorsatz der Kündigung zum Ausdruck, das heißt er schreit “Ich kündige! Ich kündige!” und als das nicht mehr ausreicht, lässt er seine Hose herunter, streckt der Videokamera seinen nackten Hintern entgegen und, pardon, kackt auf den Vertrag. Mit runtergelassener Hose rennt er die Stufen zum Foyer hinunter und klatscht den verkoteten Wisch an die Scheibe. Dann macht er kehrt, rennt aus dem Blickfeld des Publikums heraus und taucht kurze Zeit später auf der Leinwand wieder auf. Er stürmt das Büro der Künstlerischen Leitung, richtet ein Spielzeuggewehr auf die drei Männer darin und “schießt” sie ratatatatatat (das Synonym des Kulturpessimisten für die sogenannten Ballerspiele) nieder. Dabei spritzt er unter weiteren “Ich kündige”-Rufen aus einer Super Size-Ketchupflasche auf die zuckenden Leiber (und wie die zucken! Synchron mit dem ratatatatatat). Eines der Opfer versucht zu fliehen, kriecht zur Tür, woraufhin sich der Egoshooter rittlings auf es setzt und ihm ins Gesicht uriniert. Als alles Zucken zu Ende ist, zieht der Egoshooter die Hose über seinen braunen Hintern (abgewischt wird nicht!) und zieht sich zurück. Auf den Leinwänden prangt “The End.” Es ist kurz vor sieben.

Kann der Abend wirklich schon zu Ende sein? War dies gar die letzte Vorstellung? Schnell machen Gerüchte die Runde, der Volksbühnenintendant habe wirklich genug vom 12-Spartenhaus. Im Theater glaube ich nicht an Unvorhergesehenes. Ich hab schon allerhand gesehen, mich überrascht nichts mehr. Aber dieses hier? Hin- und hergerissen zwischen geilem Voyeurismus und Peinlichkeit versuche ich das Gesehene einzuordnen, sprich die Grenze zu ziehen zwischen Realität und Inszenierung.

Es ist schön zu sehen, dass man nicht ganz so abgeklärt ist wie befürchtet. Es ist schön, wieder mal aus dem Theater zu treten, staunend, verblüfft und schon einmal gedanklich vorsortierend, wie man diesen Wahnsinn Leuten erklärt, die “eine Bühne ohne Tisch und Stuhl” für modernes Theater halten. Wenn dies wirklich die letzte Vorstellung des 12-Spartenhauses war, sehe ich mich schon retrospektiv prahlen, dabei gewesen zu sein. Dieses Unterlaufen von Erwartungshaltungen schockt mehr als alle vollgekackten Verträge dieser Welt.