Wir sind dann mal weg

Was tun Frauen, um über ihren Herzschmerz hinwegzukommen? Sie heuern als singende Qualle auf einem Kreuzfahrtschiff an. Sie verkriechen sich auf einem Hochsitz und warten auf den ersten Schnee, schlimmstenfalls auf den Tof. Sie ziehen nach Flensburg. Sie reisen.

Die Kurzgeschichten der Schriftstellerin und Schauspielerin Karen Köhler handeln von solchen herzschmerz-geplagten Frauen und deren Reisen zu sich selbst. Was nach Frauenzeitschriften-Eskapismus klingt, ist in Wahrheit eines der hinreißendsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Das liegt an Köhlers Gabe, auf wenigen Seiten Charaktere zu erschaffen, die einem vertraut scheinen wie langjährige Freundinnen. Eine berufsbedingte Gabe. Als Schauspielerin muss man schließlich die ganze Zeit aus der Haut fahren.

Es geht schon gut los mit dem Titel des Buchs “Wir haben Raketen geangelt.” Raketen angeln geht so: Man stelle sich kurz nach Silvester mit einer geliebten Person auf eine Autobahnbrücke, stecke Raketen in Flaschen, binde einen Faden daran und zünde sie an. Es geht auch gut weiter: Die ersten dreiundreißig Buchseiten sind leer. Hier stünde die Erzählung “Il Comandante”, mit der die Autorin im Juli 2014 beim Bachmann-Preis antrat, wo nur Unveröffentlichtes vorgetragen werden darf. Schöne neue Internetwelt: hier ist die Erzählung nachzulesen.

Gemein ist den Charakteren der übrigen acht Erzählungen ihr Fluchtreflex. Vor allem möglichen fliehen sie, den Erinnerungen an abtrünnige Ehemänner (“Starcode Red”), verstorbene Geliebte (“Wir haben Raketen geangelt”) und Beinahe-Vergewaltiger (“Cowboy und Indianer”). Vieles geht schief, es werden Rucksäcke entwendet, Portemonnaies geklaut. Schicksalsschläge, denen Köhler-Frauen mit der fatalistischen Haltung “Besitz macht unfrei” begegnen (das merken wir uns, wenn wir dem nächsten Kriminalfall zum Opfer fallen).

Trotzdem ist Reisen niemals bloß Selbstzweck, sondern immer auch Selbstermächtigung. Oft heiter, oft glücklich und am heitersten in der Kurzgeschichte “Starcode Red.” Deren Protagonistin plagt sich durch einen Kreuzfahrt-Entertainment-Job, dessen Absurdität David Foster Wallaces (der Schreibgott habe ihn selig) “Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich” wachruft. Ob es hilft, in einem Kostüm seine Wassergrasarme zu schwenken – “ich schwenke so würdevoll wie möglich meine Wassergrasarme” – um über den Ex-Mann hinweg zu kommen, sei dahingestellt. Ich hab das mal mit einem Interrail-Couchsurfing-Trip versucht, hat auch nichts geholfen. Aber überhaupt etwas zu tun, ist machmal schon eine ganze Menge.

Dass auf den Stillstand nur der Tod folgen kann, beschreibt die Erzählung “Findling.” Es ist der Monolog einer siebzigjährigen russischen Bäuerin namens Asja, die als letzte Überlebende ihrer Familie in einer Einsiedlerhütte auf den Tod wartet. Mit dem Winter kommt die Ahnung, dass sie den nächsten Frühling nicht erleben wird, so wie sie ihr Leben lang geahnt hat, wann es Zeit ist, zwei Kartoffeln vor der hungrigen Schwester zu verstecken, damit aus ihnen im folgenden Sommer etwas Neues wächst. Auch das haben die Heldinnen in “Wir haben Raketen geangelt” gemein: am Ende ihrer Geschichten ist etwas gewachsen in ihnen. Ein Verlust schafft Platz für Neues, eine Reise ist ein Anfang.

Oder ein Ende, wie in der Erzählung “Wild ist scheu”, deren Protagonistin aus Trauer über den verstorbenen Geliebten auf einem Hochsitz siebenundzwanzig Tage auf den Tod wartet. Die Beschreibung dieses Hungertodes ist kaum auzuhalten und passt doch zu der Konsequenz, mit der Karen Köhlers Figuren ihr Leben gestalten.

Manche von ihnen fliehen vor einer Entscheidung, wie die Frau in der Erzählung “Polarkreis.” Als Antwort auf einen Heiratsantrag hinterlässt sie ein “Bin-Zigaretten-holen”-Zettelchen auf dem Küchentisch und macht sich auf eine einmonatige Italienreise, von wo sie dem Antragsteller Briefe und Postkarten schickt. Die letzte Karte beinhaltet die Aufforderung “Komm her. Und bring den Ring mit.” Eine Vespa-fahrende Ausbrecherin, die Weißwein und Espresso schlürfend über ihre Liebe sinniert? Könnte schlimmstes Toskana-Fraktion-Klischee sein, ist es aber nicht. Stattdessen macht “Polarkreis” Lust, einen Vespa-Führerschein zu machen.

Auch die Erzählung “Cowboy und Indianer” macht Lust auf einen Roadtrip. Schauplatz ist Las Vegas und die umliegende Wüste, Fortbewegungsmittel keine Vespa, sondern ein Ford Pickup, Baujahr unbekannt. Statt italienischem Espresso gibt es “burritoähnliche, in Bohnenpampe schwimmende Dinge” und Styroporbecherkaffee.

“Name. Tier. Beruf.” hingegen erzählt von einer, die da blieb, anstatt auszuziehen. Die namenlose Protagonistin betreibt einen Bioladen in ihrem Heimatdorf, als sie Besuch von ihrer Jugendliebe bekommt. “Wir stehen da und schauen auf den Wenniger-Hof und saufen die Wodka-Flasche leer. Das wissen morgen alle im Dorf, dass wir hier gestanden und Schnaps aus der Flasche getrunken haben, das ist uns klar.” Döfler kennen das Geräusch heruntersausender Rolläden von Neugierigen, die sich beim neugierig-Sein erwischt fühlen.

Wenn es bloß Neugierde wäre! Karen Köhler fängt meisterhaft jenes unstete Dräuen ein, dass Frauen (Männer wahrscheinlich auch) dazu veranlasst, alles stehen und liegen zu lassen, alle sogenannten Zelte abzubrechen und noch mal was ganz anderes zu machen. Oft geht es um den Tod. Immer geht es um die Liebe. Aus wenigen Sätzen erwachsen Pärchenrituale, die Singles belächeln und doch heimlich ersehnen: “Wir bombardieren mit Boulekugeln jeden Freitag im Sommer zwischen siebzehn und zwanzig Uhr dreißig den Park.”

Einer hat mal gesagt: “Komm, wir nehmen morgen früh das erste Flugzeug nach Los Angeles.” Nach der Lektüre von “Wir haben Raketen geangelt” ist klar, dass darauf nicht zu warten ist. Man muss seine Kreditkarte nehmen, Notizbuch und Stift und das nächste Flugzeug besteigen. Nicht erst morgen früh, sondern heute Nacht. Und dann mal schauen. Und dann wissen, “dass da jetzt ein Ort in mir ist.”