Wie man in den Wald hineinruft

Es ist Sommer, irgendwo in Texas. Die Hitze zerdehnt die Tage wie Kaugummi, dessen Geschmack bald fad wird. Vom Straßenrand aus schleudert ein Mädchen Teigklumpen auf vorbeifahrende Autos. Es handelt sich um jene Aufbackcroissants in Pappboxen, die Kinder aus intakten Familien an das sonntägliche Frühstück erinnern. Dieses Kind bastelt kleine Bomben daraus. Einer der getroffenen Wagen hält an, der Beifahrer steigt aus, tritt näher und stellt fest: “Das war ja ein Mädchen!” Ja, auch das soll es geben: Weibliche Davids, die ihre Steinschleuder mit bösen Absichten auf alles Mögliche richten.

Aber gibt es das überhaupt, das Böse? Und wenn ja, wie kommt es in die Welt? Für seinen neuesten Film bedient sich der US-amerikanische Regisseur David Zellner bei den Gebrüdern Grimm, der Psychoanalyse und Goethes “Faust.” Aber von vorn! “Kid Thing” ist die Geschichte von Annie, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, der hierzulande gewiss die Diagnose ADHS bescheinigt würde. Statt zur Schule zu gehen, zielt Annie mit einem Bolzenschussgerät auf Tierkadaver, zermatscht gehbehinderten Mädchen die Geburtstagstorte und brüllt bei Telefonstreichen “i’ll kick your ass to the mars” in den Hörer. Ihr Vater, den sie beim Vornamen nennt wie einen Fremden, schwankt zwischen Agonie (dann, wenn er das Bett nicht verlassen kann), Verschrobenheit (beim Hypnotisieren der Hühner mittels eines pinken Kreidestrichs) und Kindsköpfigkeit (wenn er mit seinem Kumpel Rubbellose bearbeitet und sie sich später mit Feuerwerkskörpern bewerfen). Die Abwesenheit der Mutter, die der Film unbeantwortet lässt, bereitet diesem Vater Schwierigkeiten, schließlich ist Aufbackpizza keine vollwertige Mahlzeit, auch wenn sie sich prima für erste kleine Revolten eignet (Annie, die den Rand zuerst abknabbert). Wenn es keine Pizza gibt, klaut Annie im 24-Stunden Shop tellergroße Lollis und Caprisonne.

Zellners Kamera fängt Bilder ein von eigentümlicher Schönheit. Wie ästhetisch Fahrgeschäfte auf Rummelplätzen blinken, wusste man ja schon, aber die Betonpfeiler eines Autobahnzubringers? Je nach Perspektive sind das wuchtige, aschgraue Steinblöcke – oder Säulen, wie nach einer höheren Ordnung aufgereiht. Wie lange wohl musste der Regisseur warten, bis der Himmel jenes Magenta der Wolkenformationen im Film annahm, die über dem schiefen Giebel von Annies Haus zusammenbrechen? Wie viele der Zettel und Sticker und Preisschilder im Fenster des Grocery Store (sieben Tage die Woche geöffnet) hängen dort immer schon, weil sich nichts ändert in diesem Kaff?

Auch Annie wirkt wie aus der Zeit gefallen: Ein blondes, etwas dickliches Mädchen, stets mit dem selben zeltartigen T-Shirt mit 80s-Print unterwegs, das sich Gasmasken übers sommersprossige Gesicht zieht und mit Einwegkameras spielt anstatt mit der Instagram-App. Andere Nerds ihres Alters verstecken sich hinter Büchern, Annie spielt Terroristin und wenn sie es gar nicht mehr aushält, flüchtet sie in den Wald. Auf einer dieser Exkursionen entdeckt sie ein Loch in der Erde, von Brettern eingefasst, als habe es jemand ausgehoben. Aus der Tiefe schallt ihr eine Stimme entgegen, die sich Esther nennt und behauptet, in das Loch gefallen zu sein. Allein komme sie nicht mehr hinaus, Annie müsse Hilfe holen.

Annie holt keine Hilfe, jetzt nicht und auch zu keinem anderen Zeitpunkt des Films. Stattdessen grübelt sie auf eine Weise über das Böse nach, an dem jedes Philosophieseminar seine Freude hätte. Gehört die Stimme aus dem Loch dem Teufel, der sie in die Hölle herabziehen will? Wieder und wieder kehrt das Mädchen zurück, wirft der Stimme Limonade und Klopapier entgegen und ein Funkgerät. Keiner der Gegenstände erzeugt ein Echo, als ob das Loch, in das sie fallen, unendlich tief wäre. Mit jedem Besuch wird die Stimme ungeduldiger, bald bösartig. Nannte Esther das Mädchen anfangs noch ihren Schutzengel (eine groteske Zuschreibung angesichts Annies Rüpelhaftigkeit), schieben sich die Beiden irgendwann gegenseitig die Rolle des Schwarzen Peters, sprich: des Teufels zu.

Für Zellner ist “Kid Thing” eine “texanische Fabel.” Während das Panorama aus Grocery Store, Kuhweiden und von Schlaglöchern übersäten Straßen zweifellos auf die Wahlheimat des Regisseurs verweist, ruft der Wald die Vorstellung deutscher Märchen wach. Annie ist eine Gretel ohne Hänsel, die anders als in der Vorlage, den Weg nicht aus der Finsternis heraus sucht, sondern mitten hinein. Der dichte Wald um sie ist ein im Freud’schen Sinn un-heimlicher Ort, er schützt das Mädchen vor der ihr feindlich gesinnten Zivilisation und birgt zugleich ein Versprechen.

Im Gespräch bezeichnet der Regisseur seine Protagonistin als “Tomboy”,  also ein Mädchen, das sich wie ein Junge gibt. Annies burschikose Art irritiert nicht nur den eingangs beschriebenen Autofahrer, der nicht glauben kann, dass ein Mädchen solchen Unfug treibt. Noch ist Annie ein Kind, wenn auch ohne dessen Unbeschwertheit. Bald jedoch wird sie zur Frau werden und auch hierfür steht der texanische Wald: Für das Versprechen der Erwachsenenwelt, dem Verbotenen, dem Abgründigen, der erwachenden Sexualität.

Das Ende des Films wird klarerweise nicht verraten, nur so viel: Es kommt so unerwartet wie rückblickend unvermeidlich. Ja – vielleicht gibt es das Böse in der Welt. Vielleicht ist es ein moppeliges Mädchen, das gerne Fertigpizzen isst, vielleicht eine Amazone, die mit Steinschleudern auf Gebrauchtwagen zielt. Vielleicht ist es eine Stimme im schwarzen Loch.