Wie die Menschen

Zu den aufregendsten Kinderspielen gehört es, Insekten und anderes Kleingetier in ein Einmachglas zu sperren und zu beobachten, was passiert. Von der anderen Seite der Glasscheibe aus betrachtet das Kind diesen künstlichen Kosmos, von oben herab seziert es diese Welt en miniature. Möglicherweise spürt es zum ersten Mal den eigenen Blick auf das Fremde. Das Tier auf der anderen Seite der Glasscheibe ist anders und doch angewiesen auf die selben Dinge wie der kleine Mensch: Nahrung. Schlaf. Fortpflanzung. Tod.

Eros und Thanatos: Drunter macht es die griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari nicht. “Attenberg” ist ihr zweiter Film, man könnte auch sagen: Die Manifestierung der Kaputtheit der Gesamtsituation. “Attenberg” erzählt die Geschichte einer jungen Frau und ihres todkranken Vaters. Viel erfahren wir nicht über deren Vergangenheit, außer, dass es eine Mutter gab, die früher oder später verstarb. Das Verhältnis zwischen Marina und ihrem Vater ist pragmatisch, in manchen Momenten wie das zwischen Arbeitskollegen, dann wieder bittersüß-vertraut, denn beide wissen, dass der Vater bald sterben wird. Zugleich ist “Attenberg” die Geschichte einer seltsamen Freundschaft. Marina ist spröde wie ihr aschblonder Lockenkopf, lacht nie und ekelt sich vor körperlicher Liebe. Bella ist zugänglich und lustbetont, beinahe promiskuitiv, sie streunt um die Männer und schmiegt sich an sie wie ein Kätzchen. Was die beiden trennt und zugleich verbindet, ist ihre Sexualität. Marina gibt vor, weder Frauen noch Männer zu begehren. Bella träumt von Bäumen mit Penisfrüchten. Schon die erste Szene des Films ist ein Knaller (und wurde von einer Filmkritikerin unseres Vertrauens als eine der stärksten des vergangenen Kinojahres gelobt): Bella bringt ihrer Freundin das Küssen bei. Mit weit aufgerissenen Mündern schlecken die jungen Frauen aneinander herum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, Bella ernsthaft, Marina mechanisch und abstrakt. Erst sei ihr Mund nicht weit genug geöffnet, dann nicht genug Spucke da, schließlich wird Marina wütend, bespuckt die Freundin und schubst sie weg. Dann gehen die Frauen zu Boden, balgen sich auf allen vieren, fauchen und schnappen und knurren, wie Tiere.

Nicht gerade zimperlich gehen die Freundinnen auch sonst miteinander um. Sie schimpfen sich Nutte und ziehen sich an den Haaren. Marina stinke nach Bleichmittel, Bella nach Benzin. Dazwischen stehen Szenen der schönsten Frauenharmonie: Marina und Bella im gleichen Blumenkleid, die Arm in Arm in einer peniblen Choreografie über regennasse Straßen tanzen. Marina, die vor ihrer Freundin die nackten Rückenmuskeln “spielen lässt” und anschließend mit der flachen Hand Bellas Brüste begutachtet wie ein Medizinstudent ein anatomisches Modell. Beides, die inszenierte Ernsthaftigkeit einer Stunde Sexualkunde in der Mittelstufe und der nüchterne Blick des Wissenschaftlers auf sein Objekt sind Leitmotive in “Attenberg.” Der Titel des Films verweist auf den britischen Naturforscher Sir David Attenborough. Bei dessen Tierdokumentationen macht Marina sich im wahrsten Sinne des Wortes zum Affen.

Bereits der ebenfalls aus Griechenland stammende Regisseur Giorgos Lanthimos werkelte in “Dogtooth – Hundezahn” am Konstrukt des zivilen Bürgers herum, mit dem Ergebnis, dass sich jedes gesellschaftskonforme Ritual als albern, affig und schlimmstenfalls gemeingefährlich offenbart. Nun gut. Schrulliges Autorenkino bekommen wir auch anderswo (unübertroffener Master of Schrulligkeit: Ulrich Seidl). Das Bemerkenswerte an diesem Film ist, dass er in den existenzialistischen Momenten von seiner Künstlichkeit ablässt, dann nämlich, wenn die Themen Sex und Tod verhandelt werden. Hat man je ein so unbeholfenes Paar im Bett gesehen, weil es sich eben erst kennengelernt hat und noch ganz unvertraut miteinander ist? Wo Lichtverhältnisse eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, weil sie es dunkel will, er hell, bis man sich auf den Kompromiss einigt, das Badlicht anzulassen? Da wird weder pornös gerammelt, noch ästhetisch-glatt geliebt und das sieht, nun ja, seltsam aus. Seltsam, weil der Mensch in solchen Momenten dem Tier näher ist, als er das für gewöhnlich wahrhaben mag. Besonders komisch an dieser grellen Intimität sind Marinas verbalisierte Handlungen: “Jetzt stecke ich meinen Finger in Deinen Mund, jetzt küsse ich Dich. Du schmeckst gut wie immer.” Sie muss ja erst einmal lernen, die Körperlichkeit nicht zu zerreden. Dabei ist auch das wieder näher dran an der Wahrheit als uns die Bettszenen zwischen einem Leonardo DiCaprio und einer Kate Winslet vorgaukeln. Wer kann schon immer im rechten Moment alles richtig machen? Kopf aus, Klappe zu, Körper an und dabei bitteschön noch die Problemzonen kaschieren?

Und das Sterben: Wann wurde zuletzt die Absurdität des unvermeidlichen Endes so präzise eingefangen? Auf die Empfehlung des Bestatters, sich nicht für die günstigste Variante zu entscheiden, kontert Marina, der Sarg dürfe bloß nicht synthetisch sein, denn dagegen sei ihr Vater allergisch. Wann hat zuletzt ein Mann so ehrlich über sein bevorstehendes Ende geredet wie Marinas Vater in seinem tristen Krankenhausbett? Lieber als von Würmern verspeist (“die Augen zuerst”) will der Vater von Fischen gefressen werden. Marina plant die Einäscherung in Hamburg, den anschließenden Re-Import nach Griechenland und wo sie die Asche ins Meer streuen wird. Bleibt die Frage, ob sich Teile des Vaters in der nächsten Spyros-Suppe oder der Bouilleabaisse finden werden. Solche genial-existenzialistischen Gedanken werden nur angerissen, dann – schwups – wieder ins Groteske verkehrt. Allein desweswegen lohnt sich “Attenberg.”

Ein jedem steht es natürlich frei, in all dem eine Allegorie auf Tsangaris Heimatland zu sehen. Wie beiläufig imaginiert der Film nur an einer Stelle die Möglichkeit einer Krise: Als Marinas Vater die Baustelle unter seinem Fenster als Ruine bezeichnet. So behutsam die Regisseurin mit dem Schreckensterminus “Wirtschaftskrise” verfährt, so konsequent ist auch nur ein einziges Mal von “Asexualität” die Rede: In der Szene, wo Marina Bellas Brüste angreift (im doppelten Wortsinn!) und diesen den Befund “schön, aber reizlos” ausstellt. Da weiß der Zuschauer längst von Marinas Widerwillen männlichen Genitalien gegenüber und ihrer Jungfräulichkeit, die sie vor dem Vater mit der Sturheit des durch nichts umzustimmenden Kindes behauptet. Väter und andere Männer werden von Marina nämlich zumindest verbal kastriert. Dies als atypisch oder gestört zu klassifizieren bleibt dem Zuschauer selbst überlassen.

Es ist nämlich so: Wir beobachten mit dem geduldigen Blick eines Attenborough diese seltsame Spezies Mensch. Zugleich inspizieren wir deren seltsames Bertragen aus der Sicht der Menschenforscherin Marina. Selbstverständlich wohnt jedem cineastischen Blick dieser Zauber der fremden Perspektive inne. Oft genug erscheint uns das künstliche Spiel des Films aber als real, bedauerlicherweise meistens dann, wenn so genannte “Traumfabriken” uns Illusionen verkaufen wollen. Nicht so bei “Attenberg.” Gerade weil hier alles einerseits so grotesk daherkommt, dass man beinahe zurückschreckt – als blickte man in einen dieser Verzerrungsspiegel auf dem Jahrmarkt – und andererseits jene Szenen, die vom Lieben und Sterben handeln, so ungeschminkt-echt wirken, gruseln wir Zuschauer uns vorm Anblick unserer eigenen tierischen Menschlichkeit. Wir sind wie jenes Kind, das sich neugierig über sein Einmachglas beugt: Ein Entdecker, Sezierer, Erforscher. Nur dass auf der anderen Seite der Glasscheibe kein Insekt hockt, sondern einer wie wir.