“Wie andere in den Park oder in den Wald, lief ich immer ins Kaffeehaus, um mich abzulenken und zu beruhigen, mein ganzes Leben.” (Thomas Bernhard)

Wie das so ist, wenn man sich fernab der Heimat aufhält und bereits bei der Planung dieses Aufenthalts glaubt, gewisse Dinge unbedingt tun zu müssen, weil es diese Dinge so nur an diesem Ort gibt und man sie so, wie man sie dann machen möchte, nur an diesem Ort machen kann. In Wien sind das die Kaffeehäuser. Ich für meinen Teil habe schon relativ früh beschlossen, dass dort, in einem zunächst nicht weiter definierten Exemplar (denn eine Vorauswahl konnte zu diesem Zeitpunkt aufgrund meiner Unkenntnis nicht getroffen werden) ein großer Teil meiner Zeit verbracht werden müsse. Man sitzt dann da, dachte ich mir, ganze Nachmittage, Abende lang und liest die wunderbaren österreichischen Qualitätszeitungen und abwechselnd all die Bücher, für die man in der aufregenden Heimat keine Zeit gehabt hat und trinkt Einspänner – dass man in Wien nämlich unter gar keinen Umständen einen Kaffee bestellen darf (am allerwenigsten mit Betonung auf der ersten Silbe), das habe ich bereits im Vorfeld verinnerlicht – und isst Powidltascherln und Sachertorte und von Zeit zu Zeit blickt man durch die großen Fenster, die von der Kälte beschlagen sind, und sieht auf die dunkle Straße hinaus und natürlich schneit es draußen. Die Luft ist schwer vom Rauch und abgesehen davon, weht der Geist von, zum Beispiel, Horváth durch den hohen Raum.

Wie das so ist, kommt irgendwann der Moment, wo diese gedanklichen Ausschweifungen korrigiert, nämlich der Realität angepasst werden müssen. Die Wahl fällt zunächst auf das “älteste Kaffeehaus Wiens”, großspurig als historisch einmalige und unbedingt zu besuchende Institution angepriesen, deren Name ich schon wieder vergessen habe. Noch schneit es nicht und noch zweifelt man an dem Wahrheitsgehalt des Schildes “Seit Achtzehnhundertirgendwas”, aber die Polster kommen der Vorstellung von historisch sehr nahe; man sitzt also in diesem tiefen, weichen Sessel und freut sich, dass da tatsächlich ein Aschenbecher auf dem Tisch steht. (nebenbei bemerkt wird nämlich in Österreich üblicherweise der Nichtraucherbereich vom Raucherbereich abgetrennt, nicht umgekehrt). Am Nebentisch sitzen zwei echte Ortsansässige, eine schöne Frau und ein gut gekleideter Mann mittleren Alters, beide trinken am frühen Nachmittag Wein und scheinen eine Grundsatzdiskussion zu führen. Leider ist der prozentuale Anteil von Touristen trotzdem sehr hoch, was die Reiseführer, die auf jedem zweiten Tisch zu liegen scheinen, bestätigen.

Noch bevor man wirklich Zeit hatte, einen Blick in die Karte (Ledereinband!) zu werfen, rauscht auch schon der Ober heran und man kommt gar nicht auf die Idee, ihn als Kellner zu bezeichnen, ihn, mit seinem schwarzen Frack. Froh darüber, dass man aufgrund jahrelanger Kaffee-trinken-gehen-Erfahrung weiß, wie die Konversation zwischen Kellner und Gast abläuft – denn der noch ungewohnte Akzent macht es beinahe unmöglich, ihn zu verstehen – fragt man höflich nach laktosefreier Milch. Er schüttelt den Kopf und ist schon dabei, einem die Karte aus der Hand zu reißen und in großer Verzweiflung bestellt man das, was man zuletzt gelesen hat. Es handelt sich, wie man wenige Minuten später feststellt um geschätzte 2 cl starken Kaffee mit einer geschätzten 5 cm Sahneschicht darüber. Man beachte: die Vokabel Sahne kommt im Österreichischen so nicht vor, das heißt nämlich Schlagobers. Dieses zauberhafte kleine Nicht-Getränk kostet dann unglaubliche 4,60 € (da lacht das Schwabenherz nicht).

Einmal ist keinmal, also weiter zum Café Sperl. Irritierend zunächst das Nichtraucherschild am Eingang – gehört Rauchen hier nicht zum guten Ton und wieso sind dann die Wände drinnen trotzdem so gelb? Nach einer Zigarettenpause vor der Tür ist dann auch wirklich ein Sofa frei, von dem aus man den Blick schweifen lassen kann durch einen Raum mit gefühlten acht Meter hohen Decken, wie bereits erwähnt verdächtig gelblichen Wänden, einem unglaublich großen Spiegel und einer Standuhr, die sofort Assoziationen an “Titanic” weckt. Die Mohnschnitte ist erwartungsgemäß überteuert, aber vollkommen, und zum Kleinen Braunen wird ein Glas Wasser serviert, ein Luxus, an den man sich bereits gewöhnt hat, woraufhin sich die Frage stellt, warum das in Deutschland so ein Problem zu sein scheint. Für das ausschließlich weibliche Personal scheint Freundlichkeit ein Fremdwort (ein deutsches?) zu sein, aber auch daran hat man sich ja schon irgendwie gewöhnt. Der Geist von Horváth lässt auf sich warten, dafür erinnert man sich daran, gehört zu haben, dass das Hitlers Lieblingscafé gewesen sein soll, eine Zusatzinformation, die hier dezent unter die niedlichen Jugenstiltische gekehrt wird, sozusagen. Das Zeitungsangebot umfasst wieder einmal den Standard, das Wiener Stadtmagazin Falter – in dem ich auf die Rezension eines neuen Clubs stoße, in welchem die Autorin bemerkt “man fühlt sich wie in Berlin!” – und wenn die Augen wehtun vom vielen Lesen im schummrigen Licht, kann man Billard spielen. Der Wasserhahn auf der Damentoilette – ein vergoldeter Karpfen – ist der mit Abstand Schönste, den ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe.

Und dann: ein Schild, das darauf verweist, dass Handys, beziehungsweise Telefonieren und vielleicht auch im Internet Surfen verboten sind. Man kann gar nicht aufhören zu staunen über soviel Traditionalismus und Standfestigkeit und erinnert sich dann doch wieder daran, dass das hier ja schließlich Wien ist, wo die U-Bahnen erst seit diesem Monat und, wie ich gehört habe, nur unter enormen Protesten und dem Widerstand der fast kompletten Bevölkerung am Wochenende durchfahren und wo es niemals, heute ebensowenig wie in zwanzig Jahren, in irgendeinem Kaffeehaus laktosefreie Milch geben wird und wo die Zeit wirklich stehen geblieben zu sein scheint, wie die wunderschöne Standuhr unter dem großen Spiegel im Café Sperl.