Wer reist, hat recht?

Wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erzählen. Klingt verdächtig nach einer von Omas Nähkästchenweisheiten, trifft aber zumindest im Fall dieses recht jungen Phänomens namens „Mitfahrgelegenheit“ zu. Charakteristisch ist, dass alle Mitfahrenden froh sind, heil am Ziel anzukommen, noch besser, ohne akustische Vergewaltigung durch Lokalradiosender oder dem Hörbuch von Dieter Bohlen. Im allerbesten Fall kriegt man während dem halbfreiwilligen Beisammensein (was die Zusammensetzung angeht, sind Mitfahrgelegenheiten ja die reinste Wundertüte) ganz unglaubliche, ganz krasse Geschichten zu hören, die so nicht mal die BILD Zeitung erfinden könnte. Einmal war ich von der Rückbank aus (da sitze ich immer, denn man wird tendenziell weniger wahrscheinlich dem Redeschwall des Fahrers zum Opfer fallen als jemand, der neben diesem sitzt) Zeugin einer hitzigen Diskussion zwischen einem Soldat bei der Luftwaffe (am Steuer) und einem links-aktivistischen Rhetorik-Studenten aus Tübingen, wobei der Begriff „Pazifismus“ für den Fahrer Grund genug war, beide Hände vom Lenkrad zu nehmen und wild gestikulierend ungesund rot anzulaufen. Ein anderes Mal erzählte ein etwas einfach gestrickter Azubi von seiner kürzlichen spirituellen Erleuchtung in Mannheim und seinem Plan, jetzt mit seiner Schwester im Geiste zusammenzuziehen, die er am Wochenende zuvor auf dem dortigen Guruworkshop kennengelernt hatte. So amüsant solche Tatsachenberichte sein können, so unzumutbar und oft hilft nur, sich die schallisolierenden Kopfhörer aufzusetzen und sicherheitshalber mit geschlossenen Augen kommunikativen Unwillen zu signalisieren.
Kürzlich auf der Strecke Hamburg – Berlin passierte Folgendes: Nach einer erfreulich anregenden Diskussion, ob das Böse im Menschen angelegt sei oder nicht, fragte die Fahrerin, ihrerseits glühende Anhängerin Rudolf Steiners und dessen Eurythmielehre, wohin wir, das heißt meine Mitfahrerin und ich, denn schon “so gereist” seien. Ihre beiden Söhne seien ja derzeit auf Weltreise, die auch eine Art Selbstfindungsprozess sei; einer in Israel, der andere in Australien und natürlich hätten sie da ihre volle Unterstützung. Es folgte ein ausufernder Monolog über die Reisen der Fahrzeughalterin, damals mit siebzehn im Stundenhotel in Paris usw. usf. und obwohl sie mir sehr sympathisch war und manche ihrer Anekdoten wirklich nett, hatte ich wie schon öfters das Gefühl, mich für eine Leerstelle in meiner Vita, nämlich jener zwischen Abi und Studium, die ja genau genommen eine Vollstelle ist, rechtfertigen zu müssen. Denn es ist klar, dass der Party-Bus-Cliquen-Urlaub in Calella nicht zu jener Art Erlebnis gehört, das an dieser Stelle erwartet wird, nämlich dem, sich auf einer mindestens einmonatigen Reise selbst kennenzulernen.

Der Grund für meinen Ärger kommt nicht daher, dass kein theoretisches Interesse am Gegenstand vorhanden ist. Bei der ZEIT-Lektüre folgt auf den Feuilleton immer der Reiseteil. Wenn Bücher nicht so eindimensional-dumm sind wie „1000 places to see before you die“ oder „Frühstück mit Kängurus“ macht es gar nichts, wenn sie vom Reisen handeln. Auf den Zugang kommt es an! Vorzeigbare Beispiele sind etwa „Deutschlandreise“ von Roger Willemsen oder Wladimir Kaminers Betrachtungen urdeutscher Befindlichkeiten. Und dann war da dieser französische Denker Xavier de Maistre, der mit seinen „Zimmerreisen“ Ende des 18. Jahrhunderts die Auffassung vertrat, man könne praktisch vom Fauteuil aus die ganze Welt entdecken. Mit dem Macbook auf dem Schoß heute kein Problem, aber das ist eine andere Geschichte.

Woran ich mich störe, ist der implizite Zwang zu „reisen“, der pünktlich mit der Volljährigkeit einsetzt. Oder gibt es den gar nicht und ich bilde mir nur ein, dass jeder nach bestandenem Abitur, besser bereits in der Oberstufe, allerspätestens aber im Studium mal was von der Welt sehen muss? Darf, würden jetzt vermutlich Angehörige älterer Generationen einwerfen. Für meine Mama waren die Campingurlaube am Alpsee wie Aufenthalte am Rand der Zivilisation und meine Oma ist, soweit ich weiß, nie über Baden-Württemberg hinausgekommen. Dafür gibt es tolle Geschichten von Käfertouren an die Riviera und wilden Sommern in Ostseestrandbädern. Einmal erzählte mir jemand, er habe unbedingt wissen wollen, ob es in Napoli tatsächlich die delikatesten Spaghetti gäbe und habe das persönlich überprüft, seine besten Freunde ins Auto geladen und nach Italien gefahren. Wie es der Zufall will, waren mein bester Freund und ich da gerade unterwegs nach Zürich. In der Nacht zuvor hatten wir nämlich in unserem jugendlichen Übermut beschlossen, einfach mal ins Blaue hineinzufahren, sozusagen, genauer: Hatten den ranzigen Schulatlas geholt, mit geschlossenen Augen den Zeigefinger über Mitteleuropa schweben lassen und so unsere Destination erkreiselt. Ich persönlich plädierte zwar für den Gardasee, weil ich daran nur gute, ich muss gestehen, Kindererinnerungen hatte, hauptsächlich an den Vergnügungspark „Gardaland“; nun war aber der Gardasee doch ein gutes Stück von unserem schwäbischen Dorf entfernt, zumal ich zwei Tage später zurück sein musste. Da kam meine Mama nämlich aus dem Kurzurlaub zurück, das spielt in meiner Geschichte keine unerhebliche Rolle, denn Pläne dieser Art sind schwer in die Tat umzusetzen, wenn man unter permanenter mütterlicher Fürsorge zu ersticken droht, wie es im Hause Perla der Fall war. Kurzum, wir hielten uns weitestgehend an das per Zufall entschiedene Ziel und beschloss noch in derselben Nacht loszufahren, auf dass wir rechtzeitig zur Frühstückszeit in Zürich einliefen. Heute kaum vorstellbar, reisten wir, soweit meine Erinnerung da nicht nostalgisch verklärt ist, ohne Navi. Smartphones gabs eh noch nicht. Kann es wirklich sein, dass ich auf dem Beifahrersitz saß, den Hintern wunderbarerweise von der Sitzheizung gewärmt – denn es war der BMW der Mutter meines Freundes, stilvoll! – mit dem ADAC auf den Schenkeln? So rasten wir dahin, auf süddeutschen Autobahnen erst, passierten die Grenze irgendwo am Bodensee, die Pinkelpause nutzten wir für alberne Fotos (noch heute auf Facebook zu bestaunen!), mit dem Soundtrack eines aus heutiger Sicht indiskutablen Schweizer House DJs, der mir noch von so mancher Abiparty in den Ohren klingt. Unser Frühstück nahmen wir – stilvoll! – im Café Odéon ein, pittoresk sprudelte die Limmat vorbei, was nicht ganz den enormen Preis des Essens rechtfertigte, dafür schmeckten die Croissants mindestens so gut wie in Paris und schließlich knausert selbst der Schwabe nicht fernab der Heimat. Mit vollen Bäuchen kugelten wir durch die Stadt, aßen Marble Cake bei Starbucks (damals schon Exotik genug) und fuhren am frühen Abend wieder nach Hause. Nun ist Zürich ja nicht gerade die Stadt, für die man sich einen Lonely Planet kauft. Mit schweizerischer Gelassenheit nehme ich das hin und verbuche diese Spazierfahrt als wertvolle Erfahrung.

Work and Travel in Australien, Au-pair in Frankreich, Schüleraustausch in die USA – was für ein Quatsch. Keinesfalls abstrafen will ich jene Schulabgänger, Jugendliche, junge Erwachsene, die ein ernsthaftes, tief empfundenes Fernweh in sich spüren, die mit stürmerisch-drängerischer Energie alles daransetzen, dafür das nötige Geld zusammen zu bekommen. Es liegt mir fern, über Mitmenschen zu spotten, denen es nicht genügt, sich fremde Kulturen über Youtube, Ramschliteratur oder über die Urlaubsfotos der Sozialen Netzwerkfreunde anzueignen; die dabei sein wollen, mit allem Leid und Schmerz und Magenproblemen, die ein Backpacktrip durch Vorderasien mit sich bringt. Was aufhören muss, ist dieser allgemeingültige Imperativ zum „Reisen“, der sich ja schon beinahe perfide in das Lebenslaufoptimierungsschema schleicht (Stichwort „Weltwärts“, dieses seltsame Projekt des Bundes, das erwiesenermaßen viele aus gar nicht altruistischen Gründen nutzen, um der zukünftigen Personalabteilung die eigenen emphatischen Qualitäten schmackhaft zu machen).

Wenn ich Leute höre, die stolz berichten, dass sie alle Sightseeingpunkte einer Stadt abgeklappert haben, die ihnen ihr Stadtführer als „unbedingt anschauen!“ verkauft hat, nur um im selben Moment die Beweisfotos herumzureichen, wobei selbst simple Nachfragen jegliches Interesse am Abfotografierten missen lassen, dreht sich mir der Magen um. Im Googlezeitalter lässt sich problemlos jeder Ort der Welt auf den Bildschirm holen. Warum braucht es ein Foto vom Buckingham Palace mit dem eigenen Profil? Um sich selbst zu vergewissern: Ich war da? Entweder der Buckingham Palace interessiert mich, dann muss ich das nicht mit meiner Digicam festhalten, weder, um mich daran zu erinnern oder, noch schlimmer, um später anderen zu zeigen: Da war ich auch schon! – oder er interessiert mich eben nicht, dann fahre ich nicht hin. Vielleicht sitze ich stattdessen lieber in einem kleinen Café, esse ein Stück Banoffee Pie und beobachte die Leute um mich herum.

Selbst auf Reisen muss sich der Reisende noch seines Reisens vergewissern: Deswegen begegnen einem überall Sätze wie The world is a book – And he who stays at home reads only one page (Schaufenster in Stockholm), Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt (Backpacker-Bar in Barcelona) und Bon Voyage! (Bahnhof in Valencia), damit man auch ja nicht vergisst, wie weltoffen und open-minded man gerade ist.

Auch ich bin diesem impliziten und doch übermächtigen Imperativ im vergangenen Sommer gefolgt, als ich glaubte, etwas nachholen zu müssen, was ich meinem Selbstbild zufolge eigentlich schon fünf Jahre früher hätte tun sollen: Drei Wochen Interrail. Mit einem beinahe zwanzig Kilogramm schweren Rucksack erlief und erfuhr ich mir in glühender Hitze Südeuropa, schlief in stinkenden Schlafwagenabteilen, bei gruseligen Couchsurfern und in einem Zeltlager voller pubertierender Jugendreisen-Teilnehmer; und empfand das größte Glück ganz am Ende meiner Reise, als ich nämlich aus dem Zug in Bregenz ausstieg und bald darauf in mein eigenes Bett fiel, mit der festen Überzeugung, jetzt erst einmal Urlaub vom Urlaub zu brauchen.

Aber die Erinnerungen! werden jetzt viele ausrufen. Die Liebste von allen ist das Reisetagebuch, mit dem ich manisch schreibend so manchen tristen Tag gerettet habe und das Sommerkleidchen aus dem kleinen Laden in der Altstadt von Barcelona, um das ich drei Tage lange herumschlich und das ich schließlich, zwinker zwinker, zu einem generösen Rabatt bekam. Natürlich gab es auch schöne Momente. Als Resümee aber bleibt die Frage, welcher Teufel mich beim Kauf dieses verdammten Tickets geritten hat und immerhin die Erkenntnis, dass ich einfach nicht gemacht bin zum Backpacken. Was nicht heißen soll, dass ich kein Interesse an fremden Kulturen und fernen Ländern habe (durchaus auch ferner als Südfrankreich), aber nicht zu den Konditionen, die ein studentisches Budget mit sich bringen. So lange ich für eine Fernreise wenn nicht am Hungertuch nagen, so doch mir viele andere Freuden absparen muss, erfreue ich mich an weniger exotischen Zielen. Dafür mit lieben Menschen, siehe oben. Denn wenn ich noch etwas gelernt habe – abgesehen von dieser fulminanten Erkenntnis, dass ich eben doch mehr “der Urlauber“ bin als “der Reiser“ – dann das: Auf die Begleitung kommt es an.