Wenn die analoge Fotografie bald verschwindet, was hängen wir dann an die Wand neben unserem Bett?

I can’t believe what we’ve seen outside
You and me watching the jets go by

So many people
So many people
Where do they go
You and me watching a sky full of chemtrails
That’s where we belong


Es gibt Sterne, Wolken, selten Sternschnuppen (nachts) und es gibt Kondensstreifen. Das ist, was übrig bleibt, wenn das Flugzeug, von dem sie stammen, längst weiter gezogen ist. Jemand anderes sieht jetzt vielleicht das Flugzeug, ich sehe den Kondensstreifen. Er ist kein Zustand, sondern Verlauf, denn während er ist, vergeht er schon wieder und ich kann dabei zusehen, wie er schmaler wird und schließlich verschwindet, wie eine Sternschnuppe bei Tageslicht. Und ein anderer sieht im gleichen Moment dem Flugzeug beim Verschwinden zu. Kondensstreifen, so ein sperriges, unschönes Wort für eine so schöne Sache, eigentlich.

“Belichtungszeit” hat genau so wenig lautmalerisches Potential wie “Kondensstreifen”. Der Schlüssel zur Magie der Fotoserie “Orr” des Künstlers Timo Klos liegt aber genau in diesem unpoetischen Ausdruck, der sich mir als Laie nicht so recht erschließen will. Tatsächlich ist das Spiel mit der Belichtungszeit als die Summe abstrakter technischer Abläufe ein gängiges Verfahren im Repertoire jedes halbwegs versierten Fotografen. Wie ich diese abstrakten technischen Abläufe trotz einem Semester “Moderne und Zeitgenössische Fotografie” nicht verstehe, sind mir auch Klos’ Bilder ein Rätsel. Nicht mehr als Schemen und Schattierungen, die vorgeben, Menschen zu sein und Orte und Landschaften.  Neues schafft Gier und so freue ich mich, die Schlieren und Farbverläufe mit Bedeutung zu füllen, bis die Bildtitel ihrerseits das Geheimnis ihrer Träger verraten. Reine Information: Eine Ort- bzw. Ereignisangabe und eine Zeitspanne.

Zwei Menschen, Mann und Frau, sitzen sich gegenüber am Tisch eines Straßencafés, Straße deshalb, weil sich sich im Schaufenster hinter den beiden spiegelt, das überall sein könnte, einander zugewandt. Was vor ihnen auf dem kleinen Tisch steht, ist nicht zu erkennen; der Titel, “Letztes gemeinsames Bier, 20 Minuten”, gibt Aufschluss, aber ist das wichtig? Es könnte auch Minztee sein oder Fritz Cola, entscheidend ist das Adjektiv, das ihm , dem Bier, voran gestellt ist. Mindestens ein Bier müssen die beiden irgendwann schon zusammen getrunken haben und die Vermutung, dass es wahrscheinlich mehr als eines war, lässt den Betrachter Zeuge eines Abschieds werden.

“Orr” ist die Dokumentation eines Abschiedes, nämlich dem des Künstlers Timo Klos von seiner Freundin, die er während eines Auslandsaufenthaltes in Helsinki kennenlernte. In gegenseitigem Einverständnis beschließen sie, dass ihre Wege sich nach zehn Monaten trennen sollen, da beide Finland verlassen und allein diese Konsequenz ruft eine Gänsehaut hervor. Als Künstler greift Klos das Sujet auf und macht es zu eben jenen bittersüßen Fotografien, die jeweils einen letzten Moment des Paares zeigen.

Ist nicht das Polaroid das Medium der Liebenden? Auch oder gerade weil es im Sterben begriffen ist, übt es wie kaum ein anderes dokumentarisches Mittel eine Faszination aus. Wenn man so will, bildet es die reine Wahrheit ab oder, weniger blumig ausgedrückt, den objektiven Moment, Barthes würde sagen: Das So-ist-es-gewesen. Aus fotografietheoretischer Sicht ist das Polaroid zwar nicht weniger subjektiv als jedes andere Abbild, weil zwischen Apparat und Motiv noch immer derjenige steht, der auf den Auslöser drückt und somit – bewusst oder unbewusst – durch die Wahl des Ausschnitts, des eigenen Standpunktes und so weiter als Schöpfer die Erscheinung seines Werkes bestimmt. Nichtsdestotrotz scheint das Polaroid “ehrlicher” zu sein, ehrlicher, weil die technischen Möglichkeiten auf ein Minimum reduziert sind und sich das Foto nicht nachträglich bearbeiten lässt. Zu einer Zeit, in der aus zweihundert digitalen Aufnahmen die okayste ausgewählt wird, nur um sie im Anschluss mit Hilfe von Photoshop von allen Ecken und Kanten zu befreien, ist das Polaroid ein Anachronismus, ein Erleichterung verheißender Schritt vorwärts oder zurück, je nachdem, zum Wahrhaftigen. Wie traurig und wahrscheinlich bezeichnend für meine Generation, dass ein solcher Apparat heute eher ein schmuckes Hipster-Accessoire, denn eine echte Alternative zur Canon-Irgendwas ist.

Interessant im Hinblick auf das Thema dieses kleinen Essays ist, dass auch und gerade beim Polaroid die zeitliche Komponente eine wichtige Rolle spielt. Während Timo Klos in seinen (digitalen) Aufnahmen die bereits vergangene Zeit verdichtet, in einem einzigen Foto konserviert und seine erlebte Eigenzeit für den Betrachter als singulären Augenblick erleben lässt, kann man dem Polaroid beim Entstehen zusehen. Dem Ergebnis geht genau die erlebte Eigenzeit voraus, an welcher der Betrachter der Serie Orr nicht teilhaben kann. Und genau das verleiht ihr ihre beinahe auratische Traurigkeit.

Chemtrails – wenigstens der englischen Übersetzung ist die Poesie ihres Gegenstandes zu eigen. Der großartige Klangkünstler Beck hat das erkannt und vertont und lange Zeit begleitete mich sein Lied, ohne, dass ich wusste, was Chemtrails bedeutete. Für mich waren es immer Kondensstreifen, ich glaubte mir sicher zu sein, so sicher, dass ich die Übersetzung nie nachgeschlagen habe – bis ich eines Tages das Video zum Lied sah, das heißt den Screenshot auf Youtube (denn ein offizielles Video gibt es wohl nicht). Darauf zu sehen: Ein strahlend blauer Himmel, an dem sich Kondensstreifen entlang ziehen. Das war der Moment, in dem ich bemerkte, dass ich dieses Bild nicht zum ersten Mal sah, dass ich es zumindest ein Mal schon gesehen hatte und nachträglich in meiner Erinnerung die Bedeutung des Wortes entlangkonstruiert hatte an der Tatsache vorbei, dass die intuitive Übersetzung des englischen Begriffs kein Zeichen meines Sprachtalents gewesen war, sondern ein der Vergessenheit zugefallenes Ereignis.

Was haben die eingangs zitierten Liedzeilen mit den überbelichteten Fotos von Timo Klos zu tun? Man könnte es subjektiviertes Erinnern nennen oder synästhetisiertes Vergessen. Ehrlicherweise haben die beiden aber nichts gemein; es ist nur meine hoffnungslos subjektive Assoziationskette, die Lied und Fotoserie in einen Kontext setzt.

Es gibt kaum etwas, das so subjektiv ist wie Erinnerung. Schöne Momente werden im Nachhinein zu existenziellen überhöht, unschöne Erlebnisse nachträglich geglättet wie die Bilder bei Photoshop oder ganz vergessen. So kostbar jede Erinnerung als Beleg des lebendig-gewesen-Seins ist, so widerstrebend mag man sich manche von ihnen ins Gedächtnis zurückrufen, weil sie einen im Innersten treffen. Fotografien in ihrer, wenn auch subjektiven, so doch empirischen Qualität als Zeugnisse eines Moments, der so und nicht anders stattgefunden hat, bringen die Erinnerung an diesen zurück, ohne dem Betrachter die Wahl zu lassen und bewahren ihn, den Moment davor, vergessen zu werden.

Es ist anzunehmen, dass das Betrachten seiner Fotos für Timo Klos ein Gefühl des schmerzhaften Verlustes oder zumindest eine Ahnung von Melancholie hervorruft. Dass es eine Annahme bleiben muss, stellt der subjektive Charakter des Fotos im Allgemeinen und besonders jener der Serie Orr sicher: ihr Wesen, das sich mir als Betrachter naturgemäß immer verschließen wird. Orr, das ist der Name der Freundin des Künstlers – er ist hebräisch und bedeutet “Licht” – und diese habe ich nicht gekannt.

Für mich sind die Fotos der Orr-Serie das visuelle Äquivalent zu meiner Vorstellung von Kondesstreifen am tagblauen Himmel. Das eine hat mit dem anderen so viel oder so wenig zu tun wie die Dauer der letzten gemeinsam gesehenen Folge “Twin Peaks” mit der erinnerten Zeit an einen geliebten Menschen, glaube ich.