Wasted Berlin Youth

“Berlin ist ein Spieplatz für alle, die nicht erwachsen werden wollen” Zu diesem Urteil kam meine Freundin Su angesichts der alljährlichen Remmi-Demmi-Situation des 1. Mais (korrekt zitiert mit freundlicher Genehmigung der Urheberin, es muss ja seine Ordnung haben). Dabei beschränkt sich dieser Spielplatz-Befund keineswegs auf den “Tag der Arbeit”. Wie viel infantiles Potential steckt in einer Stadt, wo via Facebook Kissenschlachten organisiert und brach liegende Freizeitparks okkupiert werden, wo es Hochzeitskapellen in Szeneclubs gibt und Secondhand-Läden mit einem unendlichen Angebot an absurden Kostümen! Der homo ludens, in Berlin kommt er endlich, endlich zu seinem Recht. Man bedenke, wie viel Aufregung in diesen Tagen eine semi-ernste Dokumentation über einen Club auslöst, den es seit zwei Jahren nicht mehr gibt, dafür einen Zwilling auf der anderen Seite des Flusses, der seinem Vorgänger zum Verwechseln ähnlich sieht und der immer noch für die globale Easyjet-Sehnsucht nach ein bisschen Berliner Entgrenzung steht. Selbst Spiegel online war sich nicht zu fein, einerseits über den Film selbst zu berichten (aus der Position des Zaungastes heraus: Halb sensationsgeil, halb neidisch, weil er selbst keinen Zutritt bekommt; und liegt darin nicht das Geheimnis der Aura eines sogenannten Szeneclubs?) und andererseits über das Premieren-Trara drum herum. Weil nämlich eigens für diesen Anlass noch einmal ein paar Bretterbuden aus dem bereits quasi weg-sanierten Gelände gestampft wurden, nicht zu vergessen die obligatorische Kindergeburtstags-Deko, bestehend aus bunten Lichtern in den Bäumen, lustigen Schildern, Konfettikanone, Fotoautomat etc. – aber halt, ich muss gestehen, dass ich selbst bei dieser Filmpremiere nicht anwesend war, also gar nicht befugt bin, detailgetreue Auskünfte zu geben. Ich erinnere mich lediglich daran, wie es damals aussah – und, ach, die Schaukel über der Spree, die war schon toll. Spiegel online dagegen interessierte sich ganz besonders für die “Wodkarutsche”, wo der Alkohol über eine Eisbahn direkt in den Mund der am Ende Hockenden fließt, die sich anschließend küssen müssen, weil Liebe einen total hohen Stellenwert im Konzept dieser total verrückten Berliner Ex-Institution hat.

Kurzum: Nirgendwo kann man so hemmunglos dem Erwachsensein entfliehen wie hier. Meine Freundin Su nennt das den “Peter Pan-Effekt” und vielleicht gibt es dieses Terminus bereits, wenn nicht, danke Su an dieser Stelle. Wenn aber alle ab und zu Kind sein wollen, was ist dann mit jenen, die nicht erwachsen sind, weil sie es nicht sein wollen, sondern wirklich minderjährig? Es liegt auf der Hand, dass kleine Menschen im wilden Großstadt-Techno-Dschungel nichts, aber auch gar nichts verloren haben. Schließlich haben die eingangs erwähnten Vergnügungen auch eine Kehrseite und die hat meistens etwas mit Drogen oder Sex, meist Beidem zu tun. Ja, man muss das Kind beim Namen nennen! Es ist doch reichlich naiv anzunehmen, die ganze Euphorie über Konfettiregen und Zirkusarena käme von ungefähr, bzw. von der rein theoretischen Lust am Ausnahmezustand. Genauso wie es naiv ist zu glauben, man könne drei Tage (oder wie es ein Bar 25-Besucher sehr schön formulierte: “Zweiundsiebzigeinhalb Stunden”) durchtanzen, wenn man nur genug Club Mate trinkt. Die ganze Stadt schreit geradezu “MDMA”, zumindest das Dach eines Hauses nahe des Görlitzer Parks, oder wahlweise LSD, Kokain, Chrystal Meth etc. p.p. Und wohin mit der ganzen Liebe, die dann so über einen kommt wenn man von der bunten E-Bowle gekostet hat? In den 70ern nannte man das “Freie Liebe”, in der Berliner Gegenwart geschehen nicht nur im berühmten Berghain Dinge dieser Art.

Wo anderswo unnachgiebige Türsteher die Sache regeln (das Mindestalter für die meisten lohnenswerten Berliner Clubs liegt nicht umsonst bei einundzwanzig Jahren), versagt bei Veranstaltungen der subversiveren Art jeder Selektionsmechanismus. Die Folge ist, dass man in letzter Zeit auffallend vielen, auffallend jungen Menschen auf jenen Parties begegnet, die man selbst ihrer scheinbaren Subversivität wegen gewählt hat. Berlin im Sommer, das klingt nach Afterhour auf dem Dach und Picknicken an der Spree und Straßencafé-Athmosphäre wie in Südeuropa, aber vor allem klingt es nach Open Air. Nirgendwo sonst, wage ich zu behaupten, findet man ein vergleichbares Phänomen: Ein paar Lautsprecher, ein DJ-Pult, eine improvisierte Bar oder der Hinweis auf Selbstversorgung beim nächstgelegenen Späti oder der Tankstelle um die Ecke und eine Schar gut gelaunter, hedonistisch-inspirierter Menschen mit Sonnenbrille, Glitzer im Gesicht und Seifenblasen-Ding in der Hand (mal ehrlich, hat das Teil, durch das man pustet, einen Namen?). Da Veranstaltungen dieser Art in der Regel in die Kategorie “illegal” fallen, wohnt dem Ganzen schon per se der Zauber des Verbotenen inne. Wichtig ist deshalb die Location, je abwegiger, desto besser. Auskunft darüber geben SMS-Verteiler, Mund-zu-Mund-Propaganda oder kryptische Zahlenreihen, die man bei Google Earth eingibt. Nicht zu vergessen das sehr geheime, sehr inklusive virtuelle Netzwerk, dessen Name schon klingt wie das Versprechen, sich mal vom wirklichen Leben abzumelden. Da haben wirs! Weil mittlerweile jeder Siebenjährige mehr vom Internet versteht als seine Eltern und weil das Netz ja per se demokratisch und anti-diskriminierend auch im Hinblick auf das Alter ist, kriegen auch die kleinen Berliner Schlingel raus, wo die nächste große Sause stattfindet. Alternativ über die Gruppeneinladung bei Facebook. Nicht umsonst hat sich der treffende Ausdruck der “digital natives” etabliert.

Das ist natürlich zunächst einmal sehr elitär gedacht. Schließlich war ich auch mal fünfzehn und weiß noch ganz genau, wie es war, an der Tür irgendeiner blöden Dorfdisko abgewiesen zu werden (oder nur reinzukommen, weil man die letzte Zahl des Geburtstdatums im Schülerausweis ausradiert hat). Hätte ich dereinst die Möglichkeit zu auch nur annähernd so hippen Parties gehabt, hätte ich sie ganz klar genutzt. Und natürlich hätte ich mich auch geärgert über Leute, die vielleicht selbst erst Anfang, Mitte zwanzig sind und meinen, ein Urteil über mich aufgrund meines Alters fällen zu können (okay, so hätte ich das damls nicht ausgedrückt). Aber, come on, was haben Mädchen auf Open Airs verloren, die kaum in der Pubertät sind, geschweige denn volljährig, dafür ausgestattet mit allen Insignien des trendbewussten Großstadtadoleszenten (handbemalter Jutebeutel, Chelsea Boots und, na klar, Glitzer im Gesicht)? Noch schlimmer als diese Girlies, die auf fast schon gruselige Weise den Habitus der Großen (und darum auch irgendwie meinen Eigenen) imitieren, finde ich ihre männlichen Artgenossen. Die stecken auch noch in den Kinderschuhen, tatsächlich aber bereits in Chucks, dazu tragen sie, na klar, Undercut und Röhrenjeans und, mein Gott, sind meistens so besoffen oder andersweitig berauscht, dass man einen möglichst weiten Bogen um sie macht. Mit Grauen denke ich an eine Party im Horst X-Berg zurück, wo meine Begleitung und ich uns wiederfanden in einer Menge unglaublich wütender, druckgeladener Jugendlicher, die auf der Tanzfläche um sich schlugen, als hätten sie eine ganze Menge zu kompensieren. Oder, noch schlimmer, im Ritter Butzke, wo sich passenderweise das Label “Wasted German Youth” die Ehre gab und man sozusagen flüchten musste, angesichts dieses Exzesses, einer Mischung von Hormon-Überproduktion, übermäßiger Alkoholinfusion und dem unbedingten Willen, es sich mal so richtig zu geben.

Dabei frage ich mich: Woher kommt meine Aversion? Kann es daran liegen, dass ich mich selbst in jenen jungen Partygängern wiederfinde? Dass ich sie als die kommende Generation anerkennen muss und so bereits jetzt, mit Anfang zwanzig, eine Ahnung vom alt werden bekomme? Oder haben wir es vielleicht mit Bourdieus Konzept des Habitus zu tun, das besagt, dass man sich durch sein Aussehen, die Wahl seiner Kleider, der Orte, die man aufsucht usw. einer Gruppe zugehörig macht und diese Gruppe kollektiv nach außen hin abschirmt, weil man potentiell Eindringende als Bedrohung empfindet? Klingt nach einem guten Thema für die nächste Hausarbeit.

Ich kann nicht umhin, ein bisschen Kulturpessimismus anzubringen, angesichts dieser folgenden Generation von Feiernden, die, kaum der Unterstufe entkommen, schon jetzt so wasted erscheint, wie mancher Technoveteran. Einer Generation, die aggressiver tanzt, hemmungsloser konsumiert, sich konsequenter der zerstörung hingibt, kurz: Härter feiert als wir alle zusammen. Man hat den Eindruck, diese jungen Dinger haben das Prinzip dieser wunderbaren Berliner Feierkultur nicht verstanden: Dass es hier nicht darum geht, sich abzuschießen, zumindest nicht in erster Linie, sondern darum, mit entspannten Menschen eine schöne Zeit zu haben. Mit Menschen, die sich entschuldigen, wenn sie einem auf den Fuß treten, die gerne ihr Bier und ihren Glitzer teilen, die sich freuen, dass die Musik in letzter Zeit wieder so schön melodisch ist und vocal-lastig und manchmal von Liebe gesungen wird. Man kann nur hoffen, dass sich diese Szeneküken nur austoben müssen und sich auf dem Weg zur Erkenntnis nicht vollständig den Verstand wegfeiern. Es hilft ja auch nichts, Leute von dieser Draußenkultur ausschließen zu wollen, denn schließlich bildet sie einen Gegenpol zur restriktiven Türpolitik der Clubs und dazu gehört eben gerade das in der Theorie so schöne Demokratieprinzip. Aber hier tanze ich und kann nicht anders: Manchmal wünsche ich mir die fiesen Türsteher vom Berghain zurück.