Was von der <3 übrig blieb

Kürzlich war bei “Gasoline Bill” von der tibetischen Gebetsmühle die Rede. Einer von Polleschs herrlichen Schnapsideen zufolge übernehmen die Schauspieler stellvertretend die Emotionen der Zuschauer, so wie ein Zettel in die Gebetsmühle wandert, damit seine Botschaft vergessen werden kann. Die auf diese Weise befreiten Zuschauer können während des Theaterbesuchs dann anderen Gedanken nachgehen, zum Beispiel überlegen, wo sie ihren Kugelschreiber verlegt haben (ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich an diesem Abend über mein verschwundenes Festivalticket nachdachte, das wenige Tage später tatsächlich wieder auftauchte, aber das steht auf einem anderen Gebetsmühlenblatt).

Daran erinnerte ich mich, als ich “Ende einer Liebe” sehe, eine Produktion des Thalia Theaters, die als Gastspiel bei den Foreign Affairs gezeigt wird. Jens Harzer und Marina Galic spielen ein Paar am Ende seiner Beziehung. Eine Stunde lang keift, gellt, bellt ausschließlich der Mann: “Ich hab doch gerade erst angefangen.” Sechzig Minuten Misogynie, drei Mal zwanzig Minuten Hass: “Du wirst eine Blutlache sein, wenn ich zu Ende gesprochen haben werde.” Seine Textlawine hat Vanitas-Charakter, weil sie an das Ende jeden Gefühls erinnert. Alle Liebe strebt nach Unendlichkeit und wird doch am Ende (oder vorher) eines Besseren belehrt.

Die Bühne ist ein “augenweißer” Grund, kein Boxring, eher ein klinisch reines Schlachtfeld, auf dem imaginäre Bajonette zwischen den Soldaten sausen. Es gilt der so abgedroschene wie wahre Satz “Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.” Dementsprechend ist Sprache für den Mann die Ersatzhandlung für körperliche Aggression. Zugleich ist sie ein Rückzugsort, ein bekanntes Gebiet, das Heimat schafft. Wahrscheinlich ist dieser Mann eher so der schweigsame Typ, ein verbaler Bulimiker, der jahrelange Kränkungen in sich hineinfrisst, um urplötzlich alles auf einmal auszukotzen. Früher, sagt er, habe er “Zelte aufgeschlagen, auf dem Bauch der Frau”, jetzt brechen alle Dämme. “Steh gerade!”, rügt er die Frau, dabei macht seine eigene Haltung der Schlurfigkeit seiner Sneakers alle Ehre. Jens Harzer ist der König der zurückgelehnten Vorläufigkeit. Seine Art, die Dinge wie von der Draufsicht zu sprechen, aus zwei Metern Abstand, geht das Risiko der Affektiertheit ein und erreicht doch im Gegenteil totale Wahrhaftigkeit. Jens Harzer gehört zu den anbetungswürdigsten Schauspielern dieses Landes.

Auch im wahren Leben ist er mit seiner Spielpartnerin liiert. Eine Stunde lang ist Marina Galic die stumme Königin des vorgerückten Kinns. Der unvorbereitete Zuschauer (was die Dauer des Stücks und dessen Struktur betrifft) fürchtet, es könnte so ausgehen wie damals im Maxim Gorki Theater beim “Mädchen aus der Streichholzfabrik.” Während der gesamten Inszenierung fiel nur ein einziges Wort, “Schlampe”, so nannte der Vater seine Tochter. Man sah Anne Müller als diese Tochter in ihr Unglück rennen, sehenden Auges, wie es so schön heißt, dabei folgte sie doch nur der Stimme ihres Herzens (wie es uns jedes Frauenmagazin und Paulo Coelho raten). Noch eine stumme Märtyrerin, so stumm, dass man sie schütteln will?

Es kommt anders. Die Kontrahenten wechseln die Seiten. An Stelle der stummen Königin geifert jetzt eine Amazone in Stilettos und Unterhemd (auch wife beater genannt). In genau demselben Zeitfenster wie der Mann liefert sie ihre Version des Spiels. Der Vergleich mit Yasmina Reza ist so abwegig nicht angesichts der Kammerspielkonzentration, mit der hier wie dort bürgerliche Ideale zertrümmert werden. Diese Unterhemdenfrau ist die Unzimperlichkeit in Person. Wo der Mann sich in Floskeln verklausuliert, wird sie derb. “Fotze, Eier, Schwanz”, eine durch die mehrfache Wiederholung nicht zu unterschätzende Ungeheuerlichkeit. Was nutzt die Vulgarität in Gedanken? Ausgleichende Gerechtigkeit nennt man das. Genugtuung bliebt sie freilich schuldig.

In “Ende einer Liebe” verifiziert sich Polleschs Konzept der tibetischen Gebetsmühle ex negativo: weil die beiden ihrem Leiden keinen Ausdruck verleihen können – jedenfalls keinen sprachlichen – übernimmt der Zuschauer diese Aufgabe. Entsprechend ausgelaugt, deprimiert, erschüttert fühlt er sich. Es ist die Stummheit, die den Zuschauer rührt, beinahe muss ich schreiben: zu Tränen. Auch die Idee der Katharsis wird so ins Absurde geführt. Wir leiden mit, jedoch ohne am Ende gereinigt zu sein. “Es ist kein Drama, nicht mehr geliebt zu werden”, heißt es an einer Stelle. Es ist ein Drama, dem zuzusehen.

(Für manche Zuschauer findet das Drama scheinbar woanders statt. “Gehen Sie ruhig”, sagt Jens Harzer (nicht der Mann), als ein Zuschauer sich aus dem Saal mogelt, des Deutschlandspiels wegen? Offenbar fallen Tore. Ungleich martialischer donnert es über dem Festspielhausdach. Offenbar fällt Regen.)

Das Ende: Die vermeintlichen Schiefertafeln erweisen sich als Kästchen, deren Inhalt als Federschmuck, den sich der Mann und die Frau mit entblößtem Oberkörper auf den Kopf setzen, woraufhin sie einander gegenüber treten, endlich gleichauf, und einen Schritt aufeinander zugehen (oder nicht, die Erinnerung trügt). Das Spiel beginnt von vorn.