Was nützt das Reisen in Gedanken

Die Hölle, das sind die anderen. Ob Sartre wohl an die gesellschaftliche Zwangsituation des Urlaubsbilder-Zeigens gedacht hat? Diese besonders perfide Strategie, seine Mitmenschen auf total okaye Art zu quälen, habe ich nie verstanden. Warum machen Reisende überhaupt Fotos? Das Argument der persönlichen Erinnerung kann ich noch gelten lassen. Wer in sich ruhend und total versunken sozusagen durch sein Fotoalbum blättert oder klickt, entzückt vom Sonnenuntergang auf Mallorca oder vom eigenen Gesicht vor dem Eiffelturm, dem sei dies gegönnt. Bescheidenes Glück, wenn die Fotos der Bundesgartenschau mollige Gefühle hervorrufen. Es liegt mir fern, da mit dem Argument der “fotografischen Erinnerung” daherzukommen. Wobei das schon ein ganz plausibles Argument ist, finde ich: Warum können wir uns nicht mal auf unsere eigene Wahrnehmung anstatt auf die unserer Canon 5D verlassen, auf die Gefahr hin, dass vieles in Vergessenheit gerät – dann aber zu recht? Vielleicht war der Sonnenuntergang auf Mallorca gar nicht so viel imposanter als die tägliche “Blaue Stunde” auf der Warschauer Brücke? Vielleicht unterscheidet sich unser Ausschnitt vom Buckingham Palace nur unwesentlich von den obersten Suchergebnissen bei Google?

Andererseits machen ja alle Fotos, ich auch. Ein Unmensch, wer etwas gegen fotografische Andenken in der WG-Küche hat oder gegen liebevolle Porträtserien über dem Sofa der Großeltern. Auch wenn das natürlich immer ein bisschen Egopflege ist: Schau her, lieber Besucher, so toll haben wir auf der “Fusion” geglitzert! Kuck mal, lieber Nachbar, so schlau sah unser Enkelkind schon in der zweiten Klasse aus! Fotos an die Wand hängen ist eine sanfte Form des sozialen Exhibitionismus. Umgekehrt wird jeder in fremden Häusern automatisch zum Voyeur. Das ist in Ordnung. Wer neugierig ist, kann beim Klogang die Ahnengalerie im Flur inspizieren, wer keine Anteilnahme fühlt, muss kein Interesse heucheln, weil den Fotos der Status eines Einrichtungsgegenstandes zukommt und man als Gastgeber ja auch nicht Auskunft über seine Topfpflanze und seine Mikrowelle gibt. Fotos an Wänden und Kühlschränken, auf Kommoden und Spiegeln, Schreibtischen und Beistelltischchen wollen nichts von uns. Sie sind einfach da.

Eine soziale Vergewaltigung hingegen ist die Unart, anderen Menschen seine Urlaubsfotos aufzudrängen. Es ist immer dasselbe Szenario. Besuch bei Freunden, Bekannten, Verwandten. Früher oder später kommen die Gastgeber auf hren letzten Urlaub zu sprechen. Ach, toll war das! Fotophobiker kippeln da bereits nervös mit dem Stuhlbein, weil sie wissen, was jetzt kommt, weil sie ahnen, dass es nicht beim mündlichen Bericht bleiben wird. Zwischen Dessertteller und Digestif dann die Ansage: “Wir haben Fotos gemacht. Wollt ihr sie sehen?” Abgesehen davon, dass der erste Satz völlig überflüssig ist, handelt es sich beim Zweiten keineswegs um eine rhetorische Frage. Schon werden Leinwände und Beamer aus dem Keller herbei geschafft, Computer hochgefahren und CDs eingelegt.

Es ist dies der Moment für ein bisschen Kulturpessimismus. Es gab eine Zeit, da beschränkte sich die Zahl der Fotos auf sechsunddreißig, vielleicht zweiundsiebzig pro Reiseziel, so viele passten nämlich auf einen beziehungsweise zwei “Filme.” Ganz abgesehen davon, dass der Betrachtende selbst entscheiden konnte, wie lange er sich jedes Foto anschaute – Fotostapel-Durchblättern, eine vergessene Handbewegung, ein motorisches Relikt! – überwältigt einen heute die schiere Anzahl der Fotos. Auf eine durchschnittliche Speicherkarte passen mehrere hundert, eventuell tausend Fotos, ein Umstand, der von eifrigen Amateuren schamlos ausgenutzt wird. Wählten sie früher sorgfältig ihr Motiv aus, weil die Zahl begrenzt und also gut einzuteilen war, drücken sie heute bei jedem halbwegs als bewahrenswert befundenen Motiv zehnmal auf den Auslöser, ein Gutes wird schon dabei sein!

Einzig und allein von der Güte des Gastgebers hängt es ab, wie lange die hilflosen Zuschauer den nun folgenden Prozess ertragen müssen. Wer nach dem vierhundertsiebenundneunzigten Foto gönnerhaft den Anwesenden erklärt, man könne nun aufhören, der Rest seien nur noch “so normale Urlaubsfotos”, den bezeichne ich ohne schlechtes Gewissen als Sadist – als Sadist gewiss, der sich gesellschaftlich legitimierten Handlungsmustern bedient. Wie von der Anzahl (Gott bewahre uns vor den Bild-Inflationären!) hängt es auch von der Machart der Fotos ab, wie tapfer die ungefragten, praktisch überrollten Gäste beim egozentrsichen Fototheater sein müssen. Es gibt ja durchaus talentierte Hobbyfotografen, die mit ungewöhnlichen Perspektiven, klug gewählten Motiven, wohltuender Farbgebung usw. aufwarten. Was aber denken sich Leute, die fünfmal hintereinander dasselbe Motiv, sich selbst nämlich, fotografieren, mit maximal minimalen Veränderungen? Weil sie die Rote-Augen-Funktion ihrer Kamera mal ausprobieren wollten? Den automatischen Weißabgleich? Schön schön, aber könnte der Urheber netterweise die vier missglückten Fotos vorher aussortieren, anstatt sie während der Vorführung lakonisch zu kommentieren à la “die sind nichts geworden”? Welchen Aspekt von Höflichkeit haben Menschen nicht verstanden, die Slideshows dieser Art auf dreißig Sekunden pro Bild einstellen, woraufhin sich dann, wie gesagt, jeweils zweieinhalb Minuten nichts verändert? Welcher Gott straft den Erfinder von PowerPoint-Effekten, der uns rotierende Schriftzüge, ins Bild zoomende Nullsätze, blinkende Sterne, animierte Sprechblasen bescherte? Wer erlöst uns, die wir da sitzen, unserem gesellschaftlich oktroyierten Schicksal ausgeliefert, vor uns die Digitalanzeige der bis hier gesehenen Bilder (389), unwissend, wie viele es am Ende sein werden, mit zwei quälenden Fragen im Kopf: “Wann ist das hier zu Ende (Vielleicht: Nie!)?” Und: “Tragen sie immer dieselben Klamotten oder sind das bisher nur die Fotos vom ersten Urlaubstag?”

Woher kommt meine Aversion? In meiner Kindheit gab es Fotoalben, die mit den halbtransparenten Zwischenseiten, kiloschwere Brocken, die von Schoß zu Schoß gereicht wurden, und es gab die Dia-Boxen. Bereits im Vorschulalter musste ich immer wenn Besuch kam stundenlange Dia-Abende über mich ergehen lassen. Während die Erwachsenen nostalgische Höhepunkte erlebten, Erdnussflips-essend und Sekt-Orange-trinkend das Gesehene mit Anekdoten ergänzten, langweilte ich mich zu Tode. Immerhin war der Vorgang des Dias-Einlegens, Weiter-Schaltens ein haptischer, immerhin erinnerte die Staubschicht auf den Kisten, die gelblich-weiße Leinwand und die vergilbten, rot verblichenen und teils beschädigten Aufnahmen an eine Schatzsuche. Immerhin gab es kein PowerPoint, das ehrgeizigen Familienoberhäuptern Anreiz zu optischen Entgleisungen geboten hätte. Und schließlich war der ganze Prozess sehr aufwendig, dadurch ein Ritual, das nicht allzu oft zur Aufführung kam.

Ausnahmsweise möchte ich abschließend Facebook mal als positives Beispiel anführen. Bei Facebook kann jedes Mitglied digitale Fotoalben erstellen, vom letzten Südamerikatrip, der Wohnungseinweihung, der Babyparty, whatever. Wenn mir der Sinn danach steht, schaue ich mir die Alben meiner Facebook-Freunde an. Wenn ich ein Foto kommentieren möchte oder es um eine Anekdote ergänzen, dann tue ich das. Wenn dem Urheber meine Kommentare nicht gefallen (“Deine neue Freundin? Sieht Deiner Ex-Freundin ja total ähnlich, wart ihr nicht auch mal zusammen in Rom?”), dann löscht er sie. Ich selbst entscheide durch Mausklick, wie viel Aufmerksamkeit ich dem einzelnen Bild schenke. Keine geheuchelte Anteilnahme, sondern ernsthaftes Interesse ist der Motor meiner Handlung. Fortschritt ist manchmal ein Segen.