Was der Bauer nicht kennt

Heimatfilme – schon beim Klang des Wortes läuft es mir kalt über den Rücken. Sieht man allerdings von verstaubten Ananchronismen wie “Und ewig singen die Wälder” und “Der Sündenbock von Spatzenhausen” (kein Scherz!) ab und wirft einen Blick auf aktuelle Beispiele, lohnt es sich (wie so oft) seine Vorurteile zu überdenken.
Spontan fällt mir da “Tannöd” ein, ein sehr leiser und sehr düsterer Film über einen geheimnisvollen und niemals aufgeklärten Mord in einem kleinen Dorf im dunklen Wald. Hauptdarstellerin ist die wunderbare Julia Jentsch und auch sonst enspricht der Film so gar nicht dem, was das Genre Heimatfilm einen fürchten lässt (auch, weil als Vorlage der Bestseller einer, nun ja, schreibenden Hausfrau diente; ich gebe zu, das Buch nicht gelesen zu haben, aber skeptisch macht mich so etwas schon).

Ganz anders kommt “Fleisch ist mein Gemüse” daher. Auch wenn es sich in diesem Fall umgekehrt verhält, dass nämlich das Buch noch mal um ein Vielfaches lustiger, absurder, fabelhafter ist – aber bitte, der Autor ist ja auch Heinz Strunk und allein aufgrund dessen Mitwirkens gehört “Immer nie am Meer” zu einer meiner absoluten all-time-favourites – hat folglich auch eine eigene Rezension verdient und fällt sowieso nicht in die Kategorie Heimatfilm – der Film ist immer noch um Längen besser als vieles, was alljährlich den Weg in die heimischen Kinos findet. Nach Heimatkunde dieser Art kann man dann noch einen Blick zu den Nachbarn werfen. Wunderbar treffende Bilder und Worte für Österreichs Befindlichkeiten findet zum Beispiel Ulrich Seidel. Zum Einstieg empfehle ich “Hundstage.” Merke: Nur weil der sprichwörtliche Bauer in uns sich lieber den neuen Til Schweiger-Film ansehen würde, muss man dem nicht nachgeben.

Kurzum, ich habe mir trotz erheblicher Skepsis “Schultze gets the blues” angesehen. Schultze, ein adipöser Alleinstehender im Rentenalter, ist schwer aktiv im Musikverein eines kleinen, namenlosen Dorfes irgendwo in der deutschen Provinz. Weil sich schon sein mittlerweile verstorbener Vater diesem Genre verschrieben hatte, spielt auch Schultze seit Jahren nur die Polka. Auch sonst verläuft sein Leben in geregelten Bahnen zwischen Dorfkneipe, Musikvereinübungsraum und heimischem Wohnzimmer. Die Flasche Bier immer griffbereit! Anlässlich des Musikvereinsjubiläums hat sich ein ausgefuchstes Mitglied dieses Jahr etwas Besonderes ausgedacht: der Gewinner eines Wettbewerbs (dessen Bedingungen vage bleiben) soll nach Texas reisen, um das eigene Dorf in der dortigen Partnerstadt zu vertreten. Weil sein Retro-Kofferradio eines Tages plötzlich und unverhofft einen Südstaatenblues spielt, gehen Schultze die Augen auf und er erkennt sich selbst, beziehungsweise entdeckt seine Liebe zum Blues, was dazu führt, dass er seine beiden Stammtischbrüder mit kreolischer Küche überrascht (die recht angetan sind, auch wenn sie dabei nicht auf ihr Bier verzichten mögen) und sich nach langem hin und her dazu entscheidet, dieses Jahr nicht die Polka, sondern den Blues zu spielen. Die Dorfgemeinschaft reagiert mit Entsetzen auf diese “Negermusik”, befindet Schultze dennoch für würdig, den weiten Weg ins ferne Amerika anzutreten. So kommt es, dass Schultze sich in Texas wiederfindet, tanzend auf Countrybällen, plaudernd in Whirlpools und dabei trotz seiner mehr als bescheidenen Englischkenntnisse und seinem urdeutschen Auftreten erstaunlich gut durch kommt. Schultze, respektive der Zuschauer stellt bald fest: Im fernen Texas passiert auch nicht viel mehr als Zuhause. Oder: mal wieder findet man im Fremden doch nur das Eigene.

Gegen Ende schippert er auf einem kleinen Dampfer an einem schwimmenden Haus vorbei und ersucht die Besitzerin um ein Glas Wasser. Diese bittet ihn – es lebe die amerikanische Gastfreundschaft! – zum Essen herein (selbst am Bier magelt es nicht!) und Schultze bleibt einige Tage? Wochen? bei ihr. Er wäre wohl noch länger geblieben, wäre er nicht auf einem der besagten Countrybälle aus nicht nachvollziehbaren Gründen zusammengebrochen und gestorben. Sein Leichnam wird in die Heimat überführt und in der letzten Szene beerdigt, dazu musikalische Untermalung des örtlichen Musikvereins, aber hoppla! sie spielen einen Blues. Am Schluss hat Schultze ihn also wirklich bekommen, seinen Blues, und zufrieden stellt man fest, dass ausnahmsweise ein Anglizismus im Titel mal Sinn macht. Bei all dem entsteht sogar ein ästhetischer Mehrwert, denn manche Kameraeinstellungen erinneren an Gurskys Landschaftsaufnahmen und die langen Ansichten von dörflichen Gemeinplätzen könnten in mancher Galerie als Kunst an den Wänden hängen.

Viele Szenen bleiben unverständlich bis rätselhaft. Arbeitet Schultze im Krematorium? Warum schläft er in der mobilen Modellküche vor dem Supermarkt? Warum hat er in Texas offenbar nichts Besseres zu tun als Boot zu fahren? Abgesehen von der wunderbar trefflichen Pionierromantik, dieser Sehnsucht des kleinen Mannes nach Amerika, schafft es der Film, auch die Stimmung der Provinz wiederzugeben. An dieser Stelle ist vielleicht zu erwähnen, dass ich diesbezüglich selbst ein gebranntes Kind bin, aufgewachsen im Nirgendwo. So gesehen kann ich behaupten, ganz gut zu wissen, wie das da so ist. Wenn der kosmopolitische Zuschauer also an mancher Stelle ungläubig den Kopf schütteln wird (Wann wurde dieser Film gedreht? Wo bitte haben heute die Leute noch Häkelgardinen vor dem Fenster? Und wo werden diese angehoben, um dem Nachbarn hinterher zu spionieren, und/oder ihm zu verstehen zu geben, dass es nicht in Ordnung ist, um die Mittagszeit den Rasen zu mähen? Wo spielen Musikvereine ihren Mitgliedern Geburtstagsständchen? In welchen Kneipen stehen Spielautomaten in der Ecke und messingfarbene “Stammtisch”-Plaketten auf den Tischen? Und warum ist es so ein Problem, wenn sich einer nach zwanzig Jahren mal musikalisch umorientiert?) so sei ihm versichert, dass es all das wirklich gibt. Dass es sich so und zwar genau so mit den provinziellen Befindlichkeiten deutscher Kleinbürger verhält.

Nach “Schultze gets the blues” spricht Vieles dafür, dem Genre des deutschen Heimatfilmes eine Chance zu geben. Zugegeben: Es passiert nicht viel in diesem Film. Aber so ist das nun mal in der deutschen Provinz. Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung.