Vom Suchen und Finden der Körper

Zwei Körper in Nahaufnahme. Ein Paar, ineinander verschlungen, vertraut und ganz bei sich. Diese Liebe ist noch nicht erloschen, diese Körper sind noch füreinander gemacht. Nach einer kurzen Weile ist es vorbei. Schamvoll wendet der Mann sich ab, die Frau sucht ihn mit Gesten zu beruhigen. Später wird Kasimir sagen: Es ist wegen der Arbeit. Und noch später wird Rauch Kasimir ins Gesicht lachen und sagen: „Ich hätte sie ficken können.“  Die Ballade von Kasimir und Karoline – diese Körper sind nicht füreinander gemacht.

Was bei Ödön von Horvarth in seinem 1932 uraufgeführten Drama schon zu Beginn feststeht, bahnt sich in Ben von Grafensteins Verfilmung erst nach und nach in leisen Bildern an. Kasimir und Karoline sind einfache Menschen, sie Sprechstundenhilfe, er Chauffeur, und das Geld immer knapp. Karoline wünscht sich, einen Tag mit ihrem Liebsten auf dem Oktoberfest zu verbringen, es soll ihr Tag werden und Kasimir erfüllt ihren Wunsch. Die traute Zweisamkeit wird jäh gestört durch den Auftritt von Merkel und seiner Freundin Erna, zwei schiefen Gestalten von zweifelhaftem Charakter und jeder Menge Hartz IV Romantik. Franz möchte Kasimir für seine kriminellen Absichten gewinnen, denn „schließlich ist man nicht zum Spaß hier“ und kann nicht umhin, dem Crêpe Verkäufer eine Ladung Schokosauce ins Gesicht zu spritzen. Robert Gwisdek  erfüllt seine Rolle als Unsympath meisterhaft und man kann Karolines Ekel vor ihm gut verstehen. Auch versteht man, dass sie sich auf den ersten Blick hingezogen fühlt zu Schürzinger, der ihr die Schokosauce von der Wange wischt und neben dem eher groben Kasimir feingliedrig und eloquent wirkt, zumal er sich als Sohn aus gutem Hause und verhasster Schulkamerad von Kasimir entpuppt. Trotz seiner diversen Phobien setzt er sich neben Karoline in die „Alpina Bahn“, ein nostalgisches Fahrgeschäft, das neben all den anderen  schrillen Attraktionen wie ein Anachronismus wirkt (und zum staubigen Charme der Vorlage passt). Kasimir entgeht diese erste zarte Annäherung zwischen seiner Braut und Schürzinger nicht, was dazu führt, dass er, angestachelt von Merkel, der seinen Aggressionen Luft macht, wo es nur geht, Schürzinger bedroht. Kasimirs verletzter Stolz rührt dabei offensichtlich von einem Minderwertigkeitsgefühl her: Mit dem Verlust seiner Arbeit geht für ihn ein Verlust seiner Männlichkeit einher.

Dass sich seine Karoline wenig später den Avancen des schmierigen Rauch hingibt, ist für Kasimir logische Konsequenz. Rauch, ein Freund von Schürzingers Vater, und seines Zeichens Musikproduzent, ist der Inbegriff der Münchner Schickeria: Großes Auto, große Gesten und für den Türsteher vor dem begehrtesten Zelt gibt es Bussi Bussi. Statt Dosenbier reicht er Champagner und Karoline findet mit steigendem Alkoholpegel sichtlichen Gefallen daran. Als Rauch schließlich vorschlägt, sie nach Hause zu fahren, willigt sie ein. Vorher möchte Rauch ihr aber noch sein Tonstudio zeigen. „Sing doch was, ich mach Dir ‘nen schönen Mix“ haucht er und man glaubt Dieter Bohlen vor sich zu haben.

Die nun folgende Beinahe-Vergewaltigung steht in grotesk-bitteren Gegensatz zur Liebesszene zu Beginn des Filmes. Man möchte jetzt nicht in Kasimirs Haut stecken, auch und vor allem, weil sich seine Theorie vom Zusammenhang zwischen Geld und Potenz zu bestätigen scheint. Man möchte aber auch nicht in Karolines Haut stecken, die, nur knapp ihrem Peiniger entkommen, ein Foto von ihrem Freund auf dem Handy findet, heftig knutschend mit einer Minderjährigen, das Bild gewordene Ende ihrer zerrütteten Beziehung. Zurück auf der Wiesn finden Braut und Bräutigam doch wieder zueinander, nur um kurz darauf endgültig auseinander zu gehen. Bis zum Morgengrauen wird ein Mann sterben und ein Auto brennen und Kasimir, der Mörder, im Streifenwagen abgeführt werden. Da ist Karoline längst nicht mehr da, sondern begleitet Schürzinger zur Bahn und lässt sich nebenbei von ihm die Welt erklären. Am Ende trennen sich auch ihre Wege.

Ein Glück, dass Horvaths Figuren eine vorsichtige zeitgenössische Übersetzung erfahren: So wird aus dem Zuschneider Schürzinger ein Student der Politikwissenschaft und anstelle des “Radetzky Marsches” schunkelt das Personal zu Après Ski Hits. Ein Glück auch, dass sich das Oktoberfest in den rund achtzig Jahren, die zwischen Horvaths Fassung und der Neuverfilmung liegen kaum verändert hat: Die Fahrgeschäfte mögen schneller, die Preise höher geworden sein – Mass bleibt Mass und Dirndl bleibt Dirndl und als ein Schauplatz für menschliche Dramen taugt diese Kulisse allemal.

Auch das Konzept, die Schauspieler Mundart sprechen zu lassen, erweist sich als schlüssig. Dabei sind die Hintergrundgeräusche konsequenterweise immer ein wenig zu laut und mancher Nicht-Münchner wird Schwierigkeiten haben, dem teils breiten Dialekt zu folgen. Aber schließlich ist man auf dem Oktoberfest. Dass der Lokalkolorit nicht zur Gemütlichkeit verkommt, liegt an der Liebe zu absurden Details und der klugen Kameraführung: Rauschhaft imitiert diese die allmähliche Trunkenheit der Protagonisten, wenn sie sich mal nach links, mal nach rechts neigt, in die schiefe Ebene kippt oder um einzelne Figuren kreist, dass man sich als Zuschauer fühlt wie im Kettenkarussell.

Schummrige Nachtszenen vom Rand der Wiesnsause wechseln sich ab mit den hellen Lichtern am Riesenrad und dem Blitzlichtgewitter, das Rauch, dem B-Promi, auf Schritt und Tritt zu folgen scheint. Neben einem wie Rauch bleiben naturgemäß die Meisten blass, Golo Euler in der Rolle des Kasimir leider ebenso wie Christina Hecke als Karoline. Gegen Ende emanzipiert sich der Film spürbar von seiner Vorlage. Starke Bilder trösten über den mitunter überstürzten Handlungsverlauf und die plötzlich völlig neuen Figurenkonstellationen hinweg: Wenn Karoline und Schürzinger sich ein letztes Mal küssen, mit dem anarchisch lodernden Cabriolet im Hintergrund, und wie sie dann da steht, allein im verlassenen Bahnhof und zusieht, wie sich die Türen schließen und Schürzinger ihr zum Abschied winkt – das berührt und ist programmatisch für die Stimmung, die den Film trägt.

Am Ende, so Grafensteins Lesart, bleibt man doch allein, auf dem Oktoberfest wie überall sonst. Ob sich Geld und Liebe vertragen, das heißt, ob die Entfremdung von Kasimir und Karoline ihren Ursprung in deren sozialer Not hat, kurz: Ob die Liebe in Zeiten der Existenzkrise möglich ist, das lässt der Film offen.

„Manchmal hat man so eine Sehnsucht in sich“, bemerkt Karoline auf ihrem Weg nach Hause, und besonders laut ist diese Sehnsucht dann, wenn die Sonne aufgeht und man wie Karoline weiß, dass etwas zu Ende gegangen ist. Bei Horvath klingt das versöhnlicher: Da bemerkt Schürzinger: „Du brauchst wirklich einen Menschen“ und Karoline gibt sich zuversichtlich: „Es geht immer besser.“