Vom Speiseeis, das ein Knödel sein wollte

Jetzt fängt die schon wieder mit ihrem Nostalgiekram an! Ja! Weil, es stimmt: Je älter man wird, desto rührseliger badet man in Kindheitserinnerungen. Früher, in den Sommerferien, war jeden Nachmittag ein Bimmeln zu hören. Es bimmelte durch den Bahnweg und da wussten alle der Ferien wegen so unterforderten und nach Sensation gierenden Stöpsel: Der Eismann kommt. Unfassbar, dass kurz darauf wirklich ein schnittiger Lieferwagen um die Ecke bog, auf dessen Seite in Blockschrift “EIS” geschrieben stand, ich glaube, eine rot-weiß gestreifte Markise hing über der Ladentheke und der Verkäufer war natürlich ein echter Italiener, bestimmt hieß er Luigi oder Peppino, der einen Hauch von südalpinem Flair in unser schwäbisches Dorf brachte. Sehen wir großzügig darüber hinweg, dass die vier, fünf Sorten (Vanille, Schokolade, Straciatella und für die Exotiker: Pistazie) industriell produziert waren, die Waffeln kümmerlich und fad wie Esspapier schmeckten und wir von den Eltern immer nur ein, zwei Mark für das Kugeleis, niemals vier für den Spaghettibecher zugesteckt bekamen – dafür war der Zeitpunkt ungünstig, so kurz vorm Abendbrot.

Früh übt sich, was eine passionierte Eisschleckerin werden will und das bin ich heute noch. Standard: Zwei Kugeln in der Waffel (Becher? Niemals!), die unbedingt eine Butterwaffel sein muss; zu präsent ist die Erinnerung an die Papptütchen des schwäbischen Eiswagens. Ein Highlight sind solche frischen, noch warmen Butterwaffeln, direkt aus dem Waffeleisen (!) wie es sie im Berliner “Aldemir” ab drei Kugeln gibt; wenn man nett fragt, auch schon bei zwei. Niemals Fruchteis, Ausnahme Feige. Gleichwohl ich nie den Mut hatte, mich auf Pistazie einzulassen, darf es heute gerne exotisch sein. Bei einer Reise nach Istanbul kam ich zum Beispiel auf den Geschmack von Ziegeneis. Auf Türkisch heißt das “Dondurma” und schmeckt besonders delikat zu “Künefe”, das ist eine Art warmes Baklava, bestehend aus Fadennudeln, Büffelmozzarella, viel Zucker, und, jawoll, Pistazien. Wie das aber so ist mit Dingen, denen man im Urlaub verfällt – man denke an all die Panamahüte, Strandkleider, Segeltuchschuhe, die nach der Heimkehr ungetragen in der hintersten Ecke des Kleiderschranks nie wieder das Tageslicht erblicken – schmeckt Ziegeneis außerhalb Istanbuls wie vergorene Milch. Ebenso ungenießbar sind meiner Meinung nach solche pseudo-kulinarischen Auswüchse wie Basilikumeis, Chillieis, Parmesaneis und Eis mit grünem Tee Geschmack.

In Berlin hab ich in dieser Hinsicht einen ziemlich guten Überblick: Für jeden Stadtteil mindestens eine tadellose Eis-Anlaufstelle. Glücklicherweise in direkter Nachbarschaft gleich drei hervorragende Auswahlmöglichkeiten: Schräg gegenüber “Caramello”, zwar beinahe unverschämt teuer, dafür vegan (kein Auswahlkriterium, aber Eis schlecken fürs saubere Gewissen, warum nicht) und überraschenden Kreationen (Karamell mit Himalayasalz, Feigen mit Honig und das “Betriebsgeheimnis”, enthält angeblich Dopamin!). Vis à vis in der Simon-Dach-Straße die “Eismanufaktur”, passend zur Bobo-Athmosphäre drum rum mit Flohmarktsesseln und Kronleuchter über der Eistruhe und am Boxhagener Platz die “Eispiraten.” Hier muss man vor allem am Wochenende ein bisschen Wartezeit mitbringen, aber dafür entschädigen die unfassbaren Sorten “Mohn-Marzipan”, “Raffaello” (was exakt so schmeckt, wie das Innere der gleichnamigen Praline), “Omas Apfelkuchen” und “Brownie”, plus bunte Streusel auch für Erwachsene umsonst und das für sehr okaye ein Euro pro Kugel. Jenseits der Kiez-Grenze belegen “Aledmir” in der Falckensteinstraße (siehe oben) und “Süße Sünde” am Rosenthaler Platz (für den dämlichen Namen entschädigt das Brownie-Topping) die vorderen Plätze, außerdem “Tanne.B” (abgesehen vom “Spargel”-Eis eine solide Auswahl) und “Fräulein Frost” (“Mohn”, oh wow! – außerdem “Oreo” und mit “Fräulein Frost” den schönsten Namen, den ein Eisladen haben kann).

Eine neue Stadt bedeutet also immer auch eine neue Eisdielen-Situation. Das erste, was einem in Wien in die Augen springt sind die gefühlt fünfzig Filialen von “Zanoni & Zanoni”, die größte davon nahe dem Stephansdom. Nicht nur japanische Touristen tappen in die perfide Falle: Durchschnittliches Eis, Pappwaffeln, knautschiger Service und das zu horrenden Preisen. Glücklicherweise versteckt sich „Eis Greissler“ nur ein paar Häuser weiter. Der grün-karierte Laden hat die bestgelauntesten Verkäuferinnen (alle jung, hübsch, in adretter “Eis-Greissler”-Uniform – die rätselhaften Auswahlkriterien für Eisdielenpersonal, ein Thema, dem sich auch einmal jemand annehmen sollte!), der kaum breiter ist als die Vitrine mit den Eissorten, lässt  das Berliner Leckerschmecker-Herz höherschlagen: “Viennale” (Schoko-Karamell), Weiße Schokolade, Alpenkaramell und Graumohn. Seit kurzem hat “Eis Greissler” die sogenannten „Pferdeäpfel“ im Sortiment. Den Verkaufszahlen nach zu urteilen lassen die Kunden sich von der sehr unappetitlichen Assoziation des Namens offensichtliche nicht abschrecken, Wien ist ja auch die Hauptstadt der Fiaker, sprich Pferdekutschen! Tatsächlich entpuppen sich die „Pferdeäpfel“ als Nuss-Eiskugeln im Pistazienmantel und als sehr lecker Alles bio (“Eis vom Lande”) – das also macht mittlerweile auch in anderen europäischen Hauptstädten was her. Und dann die für Wiener Verhältnisse beinahe anarchistischen Öffnungszeiten (Supermärkte schließen dort um 18.30 Uhr und die neue Sonderregelung, die es Apotheken erlaubt, samstags jetzt länger als bis 12.00 Uhr zu verkaufen, war den Tageszeitungen halbseitige Artikel wert), bis Mitternacht! Zwei Straßen weiter locken die „Tuchlauben“ mit hauseigenen Kreationen wie der „Walderdbeere“, über die ich leider nichts sagen kann, weil mir da die „Kein-Fruchteis-Regel“ in die Quere kommt, dafür muss man „Macaron“ zu den besten Sorten Wiens zählen. Dabei kochen die “Tuchlauben” auch nur mit Wasser, sozusagen, das heißt, es ist offensichtlich, warum hier ausnahmslos alle verkosteten Sorten grandios schmecken: Die Basis der “Tuchlauben”-Eiscreme ist Sahne und das zu einem gewaltigen Anteil. Das ist ein bisschen wie beim Kochen schummeln, wenn Gäste kommen: Mit mehr Butter schmeckt halt alles besser. Ein kulinarischer Sachverhalt, der sich leider nicht aus der Welt schaffen lässt – ich muss es wissen, ich lebe mit einer selbsterklärten Butterfanatikerin zusammen.

Nachdem ich schon eine Weile in Wien verbracht und mich ganz gut mit dem örtlichen Eisangebot arrangiert hatte, erzählte mir jemand von den Eismarillenknödeln bei „Tichy.“ „Tichy“ macht überall in der Stadt Werbung, die Corporate Identity suggeriert mit ihrem weiß-blau-roten Streifendesign und der fehlenden (!) Ortsangabe einen putzigen Retrocharme, der Beiname „Eissalon“ tut sein Übriges. Aber Eismarillenknödel? Davon hatte ich nichts gehört. Das „Tichy“ ist eine kleine Weltreise vom Stadtzentrum entfernt, an einer U-Bahn-Endstation, und ich zweifle nicht daran, dass viele Besucher nur deswegen hier raus fahren. Drinnen sieht es aus wie die amerikanische Version eines traditionellen Wiener Kaffeehauses, mit zierlichen Eisentischchen, Stofftapeten und goldenen Spiegeln an der Wand. Auf jedem Tisch steht ein ganz und gar absonderliches Gebilde aus Messing, bepackt mit einem Stapel Servietten (jene Sorte, die es auch bei unserem Eiswagen gab, die hauchdünnen, auf denen „Guten Appetit“ oder „Bella Italia“ oder so was steht) und Waffelröllchen, die 30 Cent pro Stück kosten. Umsonst ist dagegen das Glas Leitungswasser; wie schön, dass mal jemand verstanden hat, dass Eis Essen durstig macht. Dann also das Eis. Die Karte ist groß, Auswahl stets ein Problem, schließlich bestelle ich einen Eismarillenknödel und den Maronibecher. Was folgt, ist (WTF!) eine verdammte Geschmacksexplosion. Flüssige Maronicreme, ähnlich jener, die man leider aus Frankreich importieren muss, mit Schlagsahne obendrauf und ein eisgewordener Vanille-Sahne-Ball mit flüssigem Marillenkern und einem Mantel aus geröstetem Krokant. Was mich zu der Frage führt, wer auf die Idee kommt, eine an sich schon wunderbare Mehlspeise zu einem Speiseeis zu machen (der Begriff „Speiseeis“ sollte überhaupt viel öfter gebraucht werden, als Rehabilitierung der von vielen als mindere Kulinarik abgehandelte Nascherei)? Herr Tichy höchstpersönlich, so will es jedenfalls die Legende. Damit passt der Eismarillenknödel ganz hervorragend in eine Zeit, wo Handys Sekretariate und Fernsehgeräte Smartphones sein wollen. Alles ist sich selbst nicht genug, die Raupe Nimmersatt konnte es ja auch gar nicht erwarten, ein Schmetterling zu werden. Glückliche Existenz, wenn aus einer Metamorphose etwas so Herrliches wie die Knödelproduktion am Reumannplatz entsteht, die sogar den noblen Feinkostshop “Meindl am Graben” beliefert. Eigentlich auch nur logisch, wenn dann im nächsten Schritt aus dem Eismarillenknödel eine Joghurtsorte wird. Kein Scherz. Schmeckt lecker. Gibt es leider in Deutschland ebenso wenig zu kaufen, wie die Eismarillenknödel von “Tichy.”

Vergangenes Wochenende ging “Tichy” in die Winterpause. Man kann jetzt also beruhigt nach Hause fahren. Natürlich werden auch in Berlin die meisten Eisdielen ab Mitte Oktober zu Lagerräumen oder fancy Pop-up Stores umfunktioniert. Den unersättlichen Eisschleckern bleibt dann nur noch die traurige Alternative der KAISERS-Tiefkühltruhe. Grausame Winterzeit! Ein tröstlicher Ausblick ist „Kauf Dich glücklich“ in der Kastanienallee. Da werde ich ab jetzt wieder viel Zeit verbringen. Zu meiner Waffel gibt es dort bald endlich wieder vernünftige Eissorten zur Auswahl: Spekulatius! Winterpflaume! Lebkuchen!