Zur Feier des Tages verbrannten sie in dieser Nacht ein Auto, die Flammen waren heiss und zuckten und ich lachte grundlos laut heraus –
(Emma Cline, The Girls)
Low, einer der besten Romane meines vergangenen Bücherjahres, erwähnt einen Film mit dem Titel Zabriskie Point. Zunächst hielt ich ihn für eine Fiktion, bis ich den Trailer bei YouTube fand. Besonders eindrücklich wird die finale Explosion geschildert, in der alles Mögliche in die Luft fliegt, Kühlschränke, Tierkadaver, die Sommergarderobe. Es war die Zeit, in der ich nicht wusste, wohin mit mit meiner alten Matratze.
“Frühling” nuschele ich, weil so die Spotify-Playlist heißt und wegen der Lilie, der ich gerade Wasser gegeben habe. In Wahrheit ist der Winter jetzt auch in Wien angekommen, mit einem schlagobersfarbenen Himmel und so viel mehr Licht als im aschgrauen Berlin. Wir sind zu zweit. Um uns Mut zu machen, schauen wir uns noch mal das Video mit dem brennenden Auto an. Dann das andere.
Heute also soll SULTAN brennen. Woher diese zündende Idee letztlich kam – ob von Low oder von den pyromanischen Hippies in Emma Clines Roman The Girls – lässt sich rückblickend nicht mehr sagen. Vielleicht hatte ich auch einfach mal Lust auf Zündeln. SULTAN heißt das der Zerstörung geweihte Matratzenmodell, weil IKEA keine Kleinschreibung kennt. Wir sind die Karawane, wir ziehen weiter. “Wie”, frage ich berechtigterweise, “kriegen wir die Matratze eigentlich vom ersten Stock aufs Dach?” Statt nach Lösungen zu suchen, machen wir uns in der Badewanne die Haare nass, damit wir später nicht brennen. Die als Wegzehrung gedachten Spaghetti, die ich zubereite, während er vor der Tür die vierte Zigarette innerhalb einer Stunde raucht, sind verkocht, die Tomaten darauf beinahe angekokelt.
“Wie oft schaust Du nach, ob der Herd aus ist, bevor Du das Haus verlässt?”, erkundige ich mich zwischen zwei unbeholfenen Versuchen, mit meiner bandagierten Hand die Nudeln einhändig auf den Löffel zu rollen (im Uhrzeigersinn funktioniert es besser als entgegen). Ob es hierfür eine internationale Richtlinie gibt? Sind die Italiener Rechts-, die Chinesen Linksdreher? So wie das Wasser an verschiedenen Orten der Welt in verschiedenen Richtungen im Abfluss verschwindet? Nein, das stimmt ja gar nicht.
Statt aufs Dach, schleppen wir die Matratze nach dem Essen zur nächsten U-Bahn-Station. Es ist Freitagabend, eiskalt und die Leute kucken schon. In Berlin fände das niemand seltsam, hier schon, aber die Wiener sind zu höflich, um nachzufragen. Das Schöne an dieser Stadt ist ja auch, dass Rolltreppen und Aufzüge immer funktionieren, falls nicht, drückt ein Schild sein unendliches Bedauern darüber aus und gelobt baldige Besserung. Darüber, also die intakte Infrastruktur, freuen wir uns beim Hinaufrollen auf den Reumannplatz. Neben Tichy, jenem Eispalast, für den auch im Winter mein Herz brennt, warten wir auf den Bus, der uns ins Randgebiet bringt. Vorausgesetzt, wir verstoßen mit unserem Sperrgut nicht gegen irgendeine Beförderungsrichtlinie. Offenbar nicht.
Natürlich habe ich recherchiert. Wie weit ist weit genug, um der Anarchie freien Lauf zu lassen? Anstatt dem einmal festgelegten Plan zu folgen – Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? – steigen wir dann einfach irgendwo aus. Kein Favourite, dieser zehnte Bezirk, aber sicher auch kein Brennpunkt. Hier im Speckgürtel versagt Google Maps seinen Dienst. Hier liegt die Welt brach. Kurz begeben auch wir uns in eine liegende Position, beim Rollen unterm Bauzaun hindurch. Habe ich wirklich meinen Calvin-Klein-Mantel angezogen? Ja, das habe ich. Wir waten durch Dreck auf Grund, der nach Industriegelände aussieht. In Sichtweite leuchtet eine Wohnsiedlung, das könnte ein Problem werden. Leider keine Wasserstelle in Sicht (“falls wir Wasser zum Löschen brauchen”). Keine Ahnung, welche Strafe in Wien auf das Anzünden von ordnungsgemäß zu entsorgendem Sondermüll steht.
Im Medaillon um meinen Hals klebt das Portrait meiner rauchenden Mutter. Kleidung und Frisur lassen auf die Sechziger schließen. Ihre BHs hat sie meines Wissens nach nie verbrannt. Im 1989-Jutebeutel steckt eine Flasche Satellit, zusammen mit ordentlichen Gläsern, weil ich mir immer sage: Eines Tages rettet Dich die Dekadenz. Wie viele Matratzen wohl am 3. November ’89 in Flammen aufgingen?
Ob SULTAN jemals brennen wird, ist mehr als fraglich. An Alkohol habe ich gedacht, an Spiritus nicht. Er auch nicht. “Bestimmt”, überlege ich laut, “brennen verschiedene Arten Matratzen verschieden gut.” Seit meinem letzten IKEA-Besuch kenne ich den Unterschied zwischen Taschenkern, Federkern und Kaltschaum, unnützes Wissen. Weil er als Quasi-Kettenraucher geduldig mit Streichhölzern ist, kniet er minutenlang neben SULTAN am Boden, schützt den glühenden Streichholzkopf mit der Hand, legt nach. Mehr als ein paar Funken fliegen trotzdem nicht, was natürlich auch am Wiener Wind liegt. Wie lange können wir hier stehen, ohne die Aufmerksamkeit der nahegelegenen Reihenhausbewohner zu erregen? Gerade als wir im Begriff sind, die Sache abzubrechen, ohne den SULTAN weiterzuziehen, wird aus Funken eine Flamme.
Ist Sperma eigentlich brennbar? Hören Sterne einfach auf zu leuchten oder verglühen sie in einer gleichförmigen Explosion? Stirbt man bei einer Rauchgasvergiftung sofort oder wird man erst ohnmächtig und, wenn ja, spürt man die Hitze des Feuers dann trotzdem? Ist die Szene in Fight Club, in der Brad Pitt behauptet, das Fett eines übergewichtigen Brandopfers sei mit dessen Autositz verschmolzen, realistisch? Löst sich die Asche Verstorbener irgendwann auf oder zirkuliert sie für immer in der Atmosphäre, vielleicht viele hundert Kilometer über der Erde, vielleicht aber auch auf Augenhöhe mit den Hinterbliebenen? Ist es deshalb verboten, Tote außerhalb von Friedhöfen zu bestatten? Wird die Erde in jemandes Armen jemals aufhören sich zu drehen? Findet mich das Glück?
Wir stehen zu nah am sich zügig ausbreitenden Feuer, ich verstehe die Gelassenheit nicht, mit der er jetzt seine x-te Zigarette rauchen kann, wo doch die Gesichtshaut schon spannt vor Hitze. Trotzdem bleibe ich stehen, während ich an Zigarettenholende denke, die nicht wiederkommen.
Überraschenderweise ist der Vorgang, im Gegenteil zur Explosion in Zabriskie Point und stellvertretend für Wien, eine saubere Sache. Keine chemischen Dämpfe, keine glimmenden Sprungfedern, keine Swimmingpoolplastikteile oder zu Asche zerfallenden Sommerkleidchen. Stattdessen ein mustergültig brennendes Feuerchen. Gemächlich fressen sich die Flammen von einem Ende zum anderen und hinterlassen nichts als schwarzen Staub. Wir bleiben stehen, bis das Feuer vollständig erloschen ist. Leeren die Weinflasche, halten nach Satelliten Ausschau. Ein bisschen lustig ist das schon.
Dann gehen wir nach Hause und sind ganz warm.
Anschauen: Untitled (Favoriten), 2016