Stilvoll abgestürzt

Gerade als Geisteswissenschaftler träumt man ja insgeheim von einer „echten“ Tätigkeit. Davon, etwas „mit den Händen zu machen.“ Das soll nicht heißen, dass mentale Arbeit im weitesten Sinn keinen Sinn macht; es ist halt was anderes, gell. Ich jedenfalls habe genug Freunde, die sich als verhinderte „Praktiker“ outeten. Auffallend oft geht es dabei um Kulinarisches. A. träumt von einem kleinen Café, wo sie ihren Gästen, die auf den zierlichen Metallstühlen mit den rosafarbenen Sitzkissen Platz nehmen, hausgemachte Zitronentartes und Chai Latte serviert; L. sieht sich Cocktail shakend in ihrer Strandhütte in Costa Rica und C. kämpft sich zwar tapfer durch die Japanischklausuren, würde ihr Fern-Ost-Faible aber viel lieber in der Küche ausleben.

Über solche kleinteiligen sozialen Verästelungen kamen S. und ich kürzlich auf das Gedankenspiel, wie sie denn aussehen würde, unsere eigene Bar. Es war eines jener wunderbar mäandernden Gespräche, irgendwo zwischen unglaublich tiefsinnig und unglaublich flüchtig, wie man sie nur haben kann, wenn man dabei auf einem Barhocker sitzt und trinkt. Schade, dass der Tresen vor uns gleich als erstes Negativbeispiel herhalten musste.

Es war Freitag, es war nach Mitternacht, es war die Schanze und, was man sich als Wahl-Berliner so gar nicht vorstellen kann, wie immer zum Wochenende hin, unsagbar voll. Eines der Paradoxe, die ich nie an Hamburg verstanden habe: Warum geht unter der Woche gefühlt niemand aus und am Wochenende alle? In Berlin gehen die Leute entweder immer aus oder verteilen sich wenigstens praktischerweise auf einer Fläche, die annähernd jener der Hansestadt entspricht (Wenn nur jede Faustregel so einfach wäre!). Faktoren, die unsere Entscheidung, an jenem Tresen Platz zu nehmen, beeinflussten, waren: Es war die einzige Bar, die wir noch nicht kannten und eine der wenigen, wo man nicht gezwungen war zu stehen. Seinen Mantel konnte man an einem dafür vorgesehenen Haken aufhängen. Geradeaus: Eine fast meditativ anmutende Blumentapete. „Ich finde die Blumentapete sehr schön, wenn auch ein wenig zu meditativ“, sagte ich. „Ich finde sie schrecklich“, sagte S. „Ich mag die Lampen, auch wenn sie von IKEA sind und in jeder zweiten Studenten WG hängen, in meiner auch“, machte ich einen neuen Versuch. „Eine Bar muss ein neues Konzept wagen“, behauptete S. Das Gespräch dauerte lange.

Im Folgenden unser Stilvoll abgestürzt: Das Einmaleins des Barkeepings, völlig subjektiv natürlich, aber dafür nicht patentiert und garantiert in der Stimmung entstanden, die als repräsentativ für einen erheblichen Teil der Zielgruppe, also der Gäste, gelten muss.

Die Einrichtung. Mit dem Raum muss man als Betreiber natürlich Glück haben, trotzdem gilt: Ein geschicktes Händchen verwandelt selbst eine ranzige Ruine in the place to be (bestes Beispiel steht an der Spree und trägt die Bar sogar im Namen). Bunt zusammengewürfelte Vintagemöbel schmecken zwar nicht mehr nach Avantgarde, sind aber trotzdem eine solide Wahl und immer noch der IKEA-Tischgruppe vorzuziehen. Idealerweise steckt hinter dem vermeintlichen Tohuwabohu sogar ein Konzept, zum Beispiel morsche Tische weiß zu lackieren und wunderschöne Buchenholzplatten drauf zu setzen. Was gar nie geht, sind Werbeartikel als fester Bestandteil des Mobiliars. Gruselig, wenn aus allen Ecken kapitalistische Insignien quillen: Absolut Vodka auf dem Aschenbecher, Moet auf dem Sektkühler (okay: In unserer Bar stünde sowieso kein Sektkühler), Lucky Strike auf den Bierdeckeln und Bionade auf dem Longdrinkglas. Womit wir erneut bei IKEA wären, da kostet eine Sechserpackung dieser Standard-Caipi-Gläser circa 3,50 €. So viel wäre mir als Ästhet der Spaß wert. Notfalls Pfand verlangen (wobei, das macht dem Gast auch keinen Spaß. Man sucht dann immer entweder den Chip dazu oder… eigentlich sucht man immer den Chip dazu und findet ihn erst wieder in der Waschmaschine). Kunst sparsam dosieren. Wenn überhaupt. Ich habe keine Lust, den ganzen Abend auf die unsäglichen Experimente in Aquarell sogenannter lokaler Künstler oder die öligen Selbstfindungstrips verhinderter Talente zu starren. Selbst Arbeiten, die meinem sehr kritischen Urteil standhalten (zum Beispiel die Banksy-artigen Charakterkids in der Luzia) erschöpfen sich nach drei Jahren. Fairerweise muss hinzugefügt werden: Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten (siehe unser Beispiel der Blumentapete). Andererseits, wenn ich über Kunst diskutieren will, besuche ich eine Vernissage.

Die Musik. Heikles Thema. Steht und fällt in erster Linie mit dem persönlichen Gusto und dem Konzept (selbstverständlich hat unsere Bar ein Konzept). Bei mir liefe, wenig erstaunlich, irgendwas Elektronisches. Keine Fahrstuhlmusik! Kein harter Techno und auch nichts, was das Ohr, ergo die Aufmerksamkeit übermäßig fordert. Das klingt traurig und ich halte den Begriff „easy listening“ für so bedenklich wie wir alle (jeder Musikschaffende wird mir dafür ewige akustische Verdammung wünschen). Wenn aber auch die primären Gründe für einen Barbesuch verschieden ausfallen können, „Musik hören“ gehört nicht dazu. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass dezidiert schlechte Musik nicht unbedingt schlecht platziert ist, wenn nur das Ambiente stimmt. Dann aber bitte aufrichtig trashig und mit dem unbedingten Willen zur Peinlichkeit. Positives Beispiel: Andrea Berg im Na und? Negatives Beispiel: Rihanna in Omas Apotheke. (Ein Fernseher hat in keiner Bar etwas verloren. Umso schlimmer, wenn Videoclips laufen, aber auch pseudo-hippe Dokus und arte geht nicht. Nichts geht. Einzige Ausnahme: Die Arthouse-Filme in der 9mm Bar.)

Das Publikum. Oha. Jetzt wird es fast moralisch. Gesichtskontrolle und Schuhselektion gehört verboten oder wenigstens den Clubs vorbehalten, in die nun mal alle reinwollen, wo man potentiell deplatzierten Nachtgestalten vielleicht sogar einen Gefallen tut (aber: Heikles Terrain). Ernsthaft: Im Idealfall selektiert sich das Publikum von ganz allein. Eine Option, die immer geht und sich keinen Diskriminierungsvorwurf gefallen lassen muss, ist die U-21-Regel. Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass sich selten oder besser: Nie Horden von hormongesteuerten BLW-Studenten mit hochgestelltem Kragen und glasigem Blick Mexikaner bestellen oder kreischende Sex and the City-Lookalikes auf Junggesellinnenabschied nach der Cocktail-Happy-Hour fragen.

Happy-Hour gibt’s eh nicht. Was gibt’s zu trinken? Schließlich sind wir nicht hier, um (siehe oben) Musik zu hören, Kunst zu kucken und nur bedingt zur Konversation. Andere Faktoren (Knutsch-Potential, Frequentierung, in München: Die Sperrstunde) lassen sich kaum beeinflussen, allen voran die Stimmung, der Flow, wie auch immer man das mit Worten zu beschreiben sucht: Das passt oder halt nicht. Die Auswahl an Drinks sagt dagegen viel aus. Mir graut vor Cocktailkarten, die länger sind als mein Haushaltsbuch, für deren Durchsicht man doppelt so lange braucht wie die Geduld der Durchschnittsbedienung ausreicht. Mag auch daran liegen, dass ich nun nicht gerade zu den entscheidungsfreudigsten Menschen gehöre; umso mehr weiß ich eine kluge Vorauswahl zu schätzen. Zwei Cocktails pro Spirituose reichen völlig, dazu die Standardlongdrinks, meinetwegen (wobei entartete Kombinationen wie „Jägermeister-Bull“ und „Campari-O“ bei mir nicht auf den Tisch kämen, sozusagen). Unnötiges aus dem Gewürzregal braucht es an Zutaten nicht, jedes vernünftige Getränk kommt ohne Zimt, Salz oder Tabasco aus (na gut, nicht alle Bloody Mary-Liebhaber sind Geschmacksbanausen). Wie es auch keine eigene Weinkarte braucht und es dem Barpersonal verziehen sei, wenn es die Geschmacksnuancen des Shiraz nicht runterleiern kann. Trotzdem kriege ich immer wieder schlechte Laune, wenn auf meine Nachfrage die Reaktion folgt: Ungläubiger Blick, schlurfende Schritte zu den eingestaubten Flaschen ganz oben im Regal, Etikett nah an die Augen halten, schlurfende Schritte zurück und die Antwort: Weiß und Rot. Rot ist dann immer, immer Merlot. Mit auf die Karte kommt ­ unnötig zu erwähnen, dass sie ansprechend gestaltet ist; nicht wie im Süß war gestern, wo sich ein Illustrator mal so richtig ausgetobt hat, sodass man den Drink vor lauter Hasen und Sternen nicht sieht und auch nicht wie jene Exemplare, die auf pastellfarbenes Druckerpapier gedruckt sind, zerfleddert und durchgeweicht und nirgends hingehören als direkt in den Müll ­ : White Russian mit Sahne oder laktosefreier Milch und Moscow Mule. Das, liebe Hamburger, ist der Name jenes Getränks, das aus Wodka, Ginger Beer (oder Ale) und Gurke besteht und hier fälschlicherweise als „Gurkenwasser“ kursiert.

Und leider muss selbst ich als abstinente Ex-Raucherin zugeben, dass in einer anständigen Bar geraucht wird. Gerne in einem abgetrennten Bereich; dann erlaubt es ja glücklicherweise das deutsche Gesetz, Essen anzubieten und das ist nicht zwingend, aber doch sehr schön. Keine Salzstangen oder Erdnüsse, dafür Tapas und frisches Brot.

Unser Nachtwerk war vollbracht. S. und ich freuten uns sehr, dass wir nun endlich einen adäquaten Katalog vor uns hatten, gedanklich wenigstens. Nur für den Fall, dass wir es uns doch noch anders überlegen mit den Geisteswissenschaften.

Unsere Lieblingsbars in Hamburg? Saal II, Klingel und Toast Bar. Und die Prinzenbar, auch wenn die streng genommen ein Club ist, dafür aber so schön wie Ludwigs Grotte im Schloss Lindenhof.                                                                                              Meine Lieblingsbar in Berlin? Place Clichy, Belman’s und Farbfernseher. Und das Bateau Ivre. Da kann man sogar so gut frühstücken wie fast nirgendwo sonst.