Sleepless im MV

Wenn man Samstagnacht gegen drei Uhr in einem Western Saloon mitten im Problemkiez sitzt, neben einer Handvoll Typen vom Schlag “US-amerikanischer Junggesellen-Abschied” und einem hochgewachsenen Beau im Glitzeranzug zuhört, der sehr ergriffen von seinem Heroin-Entzug erzählt, dann muss es sich um Berliner Theater handeln. Jetzt geht der Sänger durchs Publikum, verteilt Ballons, funkelt im pinken Scheinwerferlicht; jetzt kommt die Bedienung, erwartungsgemäß schlecht gelaunt und knallt eine Palette Starkbier auf den Tisch, neben die Speisekarte (“Das HAU wünscht guten Appetit bei den Country Potatoes!”) und die XXL-Tube Heinz-Ketchup. Wieder einmal fallen einem die Augen zu. Leider liegt das Koffeinpulver und die Dose Red Bull im Bus, erster Stock, vorne links. Aber man hat sowieso kein nicht-koffeinhaltiges Getränk mehr, in dem sich das Pulver auflösen ließe – denn wiederholt hat die forsche Busbegleitung per Mikrofon darauf hingewiesen, dass Koffein und Koffein eine eher ungünstige Allianz eingehen.

David Foster Wallace: Übermensch, Überengel muss man sagen! Wenn es einen Friedhof der Klugschreiber gäbe, dann bekäme der 2008 freiwillg aus dem Leben geschiedene Wallace – der Schreibgott hab ihn selig – einen Ehrenplatz, gleich neben Thomas Bernhard. David Foster Wallace hat eine Menge guter Dinge aufgeschrieben. “Am Beispiel des Hummers” zum Beispiel, einen kurzen Essay über Leben und Leiden eines Hummers im Kochtopf des weltweit größten Hummerfestivasl in Rockland, Maine. “Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich”, eine sehr subjektiv gefärbte Reportage über eine Luxus-Kreuzfahrt. Besonders schrecklich und besonders amüsant ist sein größenwahnsinniger Roman “Unendlicher Spaß” (besonders prätentiöse Wallace-Kenner lesen ihn natürlich in der Originalfassung “Infinite Jest”). Mit schamvoll gesenktem Blick gestehe ich, dass dieses gut 1,4 Kilo schwere Ungetüm (danke an den Verfasser der Liste “Bücher, die mehr als ein Kilo wiegen”) schon etwas länger neben meinem Bett liegt und obwohl ich Wallace wirklich verehre, schaffe ich es einfach nicht über die ersten sechzehn Seiten hinaus. Ich will so gerne, aber ach! Dann erinnere ich mich, wie ich einst zwei Literaturkritiker einer großen deutschen Zeitung belauschte, die sich im Redaktionsflur über die Kiste mit den ausrangierten Büchern beugten und sich über Dantes “Göttliche Komödie” unterhielten:

Literaturkritiker A: “Hast Du das eigentlich gelesen?”

Literaturkritiker B (schnaubt): “Nein.”

Literaturkritiker A: “Ich auch nicht.”

Man muss also, so habe ich mir damals gedacht und so denke ich auch heute noch, manchmal etwas nachsichtig mit sich selbst sein. Es gibt weitaus unansehnlichere “Coffee Table Books” als eine solche Perle der zeitgenössischen US-amerikanischen Literatur; Wallace wirkt auf jeden Fall more sophisticated als “Interiors Now!” oder ein Stapel alter Vogues. Umso besser, dass Matthias Lilienthal, scheidender Intendant des Berliner Hebbel am Ufer-Theaters (HAU), aus dem “Unendlichen Spaß” einen Theater-Marathon mit dem Untertitel “24 Stunden durch den utopischen Westen” fabriziert hat. Lilienthal will, dass man sich das Stück in einem Rutsch sozusagen, das heißt 24 Stunden lang ansieht. Wieder muss ich gestehen, dass ich mich dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlte – dafür sind die Erinnerungen an Nicolas Stemanns “Faust” im Thalia Theater Hamburg (12 Stunden) und das ganz und gar grauenhafte “12 Karamasows” am Kampnagel, Hamburg (6 Stunden) viel zu präsent und der Schmerz über den verpassten “John Gabriel Borkmann” an der Berliner Volksbühne (bis zu 12 Stunden) noch zu frisch. Folglich entschied ich mich für zwei 12-Stunden-Touren an verschiedenen Tagen.

Teil 1, Mittwoch morgen, 9.30 Uhr, Treffpunkt: Tennisclub LTTC Rot-Weiß, Berlin-Grunewald. Anwesend außer mir: Die gefühlte Hälfte meines Theaterwissenschaftsinstituts. Alle ausgestattet mit Backpacks und dem blauen Bändchen, das sich insofern von meinem gelben unterscheidet, als dass sie sofort als die wirklich wagemutigen 24-Stunden-Tourer zu erkennen sind. Eine Stimmung wie beim Zelten in der Unterstufe: Wer bleibt am Längsten wach? Im Vereinsgebäude, auf und vor den Courts finden die ersten drei Performances statt. Klar kann es hier nicht darum gehen, die Vorlage auch nur annähernd adäquat umzusetzen. Eher liefert der Roman Impulse, die dann zu etwas anderem führen, zu einem verbalen Tennismatch etwa (erdacht vom Regiekollektiv Gob Squad), dem nachhaltigsten Beitrag auf dem LTTC-Gelände. Gegen mittag die erste von unzähligen Essenspausen. Nicht zuletzt wegen dem kollektiven Am-Grill-Anstehen und den Schlangen vor dem Thermoskannen-Kaffee in Pappbechern fühlt man sich wie auf Klassenfahrt. Und dann der Bus! Weil die “Reise” ja durch “den utopischen Westen” führen soll, ergo den Teil von Berlin, den wohl kaum ein Zugezogener kennt, bringen schnittige Doppeldecker die Gruppen von A nach B, jetzt also von Grunewald zum Teufelsberg. Wegen der dortigen Radarstation lag mir ein Freund seit vielen Monaten in den Ohren; es handle sich um einen jener brachliegenden, abschüssigen Orte, die von illegalen Technoparty-Betreibern so sehr verlangt werden, mit dem Unterschied, dass die Radarstation auf dem Teufelsberg bisher praktisch unentdeckt blieb. Und ja: Eine Location, wie sie sich der Lonely Planet nicht subversiver hätte ausmalen können: Halbzerfallene Gebäude, dekorativ mit Graffities beschmiert, Bauschutt und Bierflaschen im kniehohen Gras. Auf dem höchsten Punkt lauscht man über Kopfhörer dem konspirativen Dialog zweier Wallace-Figuren. Leider kommt diese Darbietung gegen das starke Setting nicht an (mit anderen Worten: Laaaangweilig!).

Weiter geht es zum Vivantes Klinikum Neukölln. Hier wurde einfach mal, so scheint es, der laufende Krankenhausbetrieb umgeworfen, damit die erlesenen Kulturtouristen aufs Kultivierteste bespaßt werden. Erst verfolgt man von außen, das heißt hinter Scheiben stehend, eine von der wie immer wundervollen Anna Viehbrock erdachten Psychatrieszene mit wirren Charakteren, die unter fettigen Haaren hervorlugend, Pantoffel-schlürfend, brabbelnd durch den ganz und gar nicht sterilen Raum wanken, dazwischen Zeichentrickfilme auf Uralt-Geräten und eine Ansammlung Flohmarkt-Mobiliar. Dann nimmt man auf eben diesem Ranz-Mobiliar Platz und lauscht den mündlichen Ausfällen dreier depressiver Frauen. Und dann sitzt man in einem leerstehenden Krankenhausflügel, mit Kopfhörern auf den Ohren, in Warteposition. Chris Kondeks Beitrag ist ein Trip in den mentalen Abgrund eines Mannes auf Cannabis-Entzug. Während der Protagonist mit fiebrigem Blick um die Zuschauer wuselt, erzählt die Stimme im Ohr von all den gescheiterten Abstinenz-Versuchen und dass es diesmal wirklich zum letzten Mal passieren wird, weil er, ganz ähnlich dem Personal im Film “Das große Fressen”, ein letztes Mal so viel kiffen werde, dass ihn die schiere Menge ekeln und folglich von seiner Sucht befreien werde. Das erklärt die enormen Vorräte an Oreo-Keksen, an Schokoriegeln und Cookies (die, was für eine grandiose Idee, in Echtzeit in der “Küche” aufbacken und nach und nach verbrennen; “Hier riecht es doch nach Kuchen, riecht es hier nicht nach Kuchen?”, das hatte man sich schon die ganze Zeit gefragt!). Weil aber seine Dealerin einfach nicht kommt, weil er sie aber auch unmöglich anrufen kann, denn in diesem Moment könnte sie ja versuchen ihn anzurufen, verwandelt er sich schließlich in das Insekt, das er eben noch aus seinem CD-Ständer krabbeln sah. Ganz real, indem der Darsteller in einen Ganzkörper-Anzug steigt. Auf sein Winken hin folgen ihm die Zuschauer in einen weiteren Raum: Nebelmaschine, grünes Licht, eine Telefonzelle, in die das Mensch-Insekt kriecht. Chapeau!

Nach einem Imbiss in der Krankenhaus-Mensa brechen wir auf zur letzten Station des Tages, dem Campus Benjamin Franklin, mit dem Institut für Mikrobiologie und Hygiene in Steglitz. Es handelt sich in der Logik des Stücks um das “David Foster Wallace Zentrum.” Wer den Wissenschaftsbetrieb kennt mit seinen stringent inszenierten Darbietungen von Wissen und Macht und manchmal Wichtigtuerei, der wird wenigstens schmunzeln über den klugen Beitrag von Phillipe Quesne. Wichtig aussehende Menschen in weißen Professorenkitteln führen das Publkikum in den Hörsaal, wo Ulrich Blumenbach, der Übersetzer von “Unendlicher Spaß”, via Skype über sein “Baby” spricht. Als Schmankerl verteilen Statisten in Wallace-Uniform die ebenfalls Berlin-obligatorischen Jutebeutel mit dem Logo des Zentrums und verweisen dezent auf die Bar im Foyer, wo man jetzt endlich seine erste Tagesration an Alkohol zu sich nehmen kann. Aufgekratzt, munter, erwartungsvoll stehen die Teilnehmer mit ihrer Bierflasche herum und harren der Un-Dinge, die da kommen. Ich nicht. Meine Tour ist hier zu Ende… to be continued.

Teil 2, Samstag abend, 21.30 Uhr, Treffpunkt: Wieder das “David Foster Wallace Zentrum.” Wie beim ersten Teil der Tour werden auf dem Weg zur nächsten Station netterweise Care-Pakete ausgegeben und ja, danke für den Hinweis, für mein ganzes Leben merke ich mir, dass ich Koffeinpulver nicht in koffeinhaltigen Getränken auflösen darf. Im Fernsehzentrum des RBB sehen wir die Performance der Regisseurin Anna-Sophie Mahler, die den Crackrausch und anschließenden Suizidversuch der fiktiven Radiomoderatorin Joelle Van Dyne in einer schallisolierten Aufnahmebox inszeniert. Obwohl die Schauspielerin nur über Mikrofon zu hören (mit fremdartig verzerrter Stimme wie der Gesang bei Daft Punk) und auch nicht zu sehen ist, weil ein Schleier ihr Gesicht bedeckt, berührt ihr Monolog. Es ist, als stünde als Partygast vor der verschlossenen Klotür, als klopfe man selbst ärgerlich dagegen, wohl wissend, dass sich da drin jemand gerade so richtig abschießt. Und Wallace’ Metapher für die höchste Ekstase im Drogenrausch – die Muttergottes auf dem Gemälde eines alten Meisters, die sich verzückt dem Engel über ihr hingibt – mag man nichts hinzufügen. Nächste Station ist der Umlaufkanal des Instituts für Wasser- und Schifffahrtstechnik nahe der S-Bahn Station Tiergarten, wo leider die unspektaluräre Darbietung des ersten Teils, jener Dialog auf dem Teufelsberg, fortgesetzt wird. Immerhin ein schönes Bild, wie die beiden Protagonisten in Kanus aufeinander zuschippern.

Während viele, mich eingeschlossen, diesen Teil Berlins als nur mäßig aufregend empfinden, fiebert man förmlich der folgenden Station entgegen: Reinickendorf, genauer dem Märkischen Viertel. Dieses assoziiere ich sofort mit Sido (der übrigens gerade eine steile Karriere in Österreich als bad export der deutschen Musikbranche hinlegt, aber das ist eine andere Geschichte) und seinem Song “Mein Block.” Jetzt ist mir endlich klar, was es mit der Textzeile “Im MV scheint dir die Sonne ausm Arsch” auf sich hat! Wie könnte einem auch nicht “die Sonne aus dem Arsch scheinen” in einem Kiez, dessen Schankstuben (“Kneipe” sagen geht auch, “Bar” nicht) “Change of Season” heißen oder schlichtweg “Fun”? Endlich trifft der so lapidar dahin gesagte Satz “Das Theater liegt auf der Straße” mal zu. Hier im Märkischen Viertel mit seinen strengen sozialen Choreografien (Wessen BMW parkt wo? Wem gehört welcher Tresen?), seinen kleinteiligen interkulturellen Codes (Wen begrüßt man mit Küsschen? Wen mit Handschlag?), seinem regulierten Vokabular (Wen nennt man “Alter”? Wer wird gesiezt?), bietet sich ein humanes Schauspiel der allerauthentischsten Sorte. Sogleich steuert ein Pulk junger Erwachsener auf die HAU-Gruppe zu: “Ey seid ihr wegen dem Theater hier?” Leider finden die nächsten drei Performances nicht in einem der umliegenden Etablissements statt, sondern im Fontane-Haus. Ein wenig wird meine Sensationsgeilheit immerhin vom eingangs beschriebenen “American Western Saloon” befriedigt, auch wenn ich das Gefühl habe, für jede der Bardamen sei mein Besuch eine persönliche Beleidigung.

Erste Sonnenstrahlen fallen zwei Stunden später durch die Scheiben der Bibliotheks-Kantine, wo ein fingiertes Treffen der Anonymen Alkoholiker stattfindet, die (auch das ist mir neu) einen starken Bezug zur Kirche zu haben scheinen. All die verlorenen Schäfchen in der Runde können trotz ihrer empatisch vorgertragenen Leidenswege nicht verhindern, dass ein Großteil des Publikums wegnickt. Ebensowenig der starke und absichtlich schlechte Kaffee, ein wichtiges Indiz für die AA-Treffen. Bevor wir endlich in das gefühlte Stadtzentrum heimkehren, macht der Bus noch Halt im Finanzamt Reinickendorf. Meine Erinnerung daran ist vage: Das mag an der totalen Erschöpfung liegen. Dabei muss ein Regisseur, der die Zuschauer auffordert, sich knallgelbe Tücher mit stilisierten Smilies übers Gesicht zu stülpen und sich in Rollstühlen nieder zu lassen, damit rechnen, dass alle einschlafen.

Die letzten ein? zwei? Stunden sind eine einzige Gute-Nacht-Geschichte, die das Publikum, größtenteils sowieso schon seelig schlummernd, dankend annimmt. Im stockdunklen Saal des HAU 2 rezitieren zwei Schauspieler die letzten sechzig? siebzig? Seiten des Romans, begleitet von einer sehr jungen, sehr erotischen Musikerin, unterbrochen nur ein einziges Mal von einem Schwall Tennisbälle (ach ja Tennis: Ein zentrales Motiv des Romans!), der ganz fürchterlich laut vom Bühnenhimmel donnert, eine Schrecksekunde für die dösenden Zuschauer. Da ist es fast neun Uhr. Weil ich mich so sehr konzentriere, ja nicht das Ende der Lesung zu verpassen, denn ich finde, der letzte Satz eines 1410-seitigen Werkes ist schon ein Statement, kriege ich doch fast alles mit. Auch, weil die Sitze des HAU, anders als etwa jene im Wiener Burgtheater, kaum geeignet sind für einen wirklich tiefen Schlaf, eigentlich nicht einmal für ein power napping. Der letzte Satz lautet: “Und als er wieder zu sich kam, lag er flach auf dem Rücken am Strand im eiskalten Sand, aus einem niedrig hängenden Himmel regnete es, und draußen war Ebbe.” Kurz darauf, auf dem Weg zum WAU, wo die tapferen Theatergänger mit Latte Macchiato abgefrühstückt werden, höre ich Matthias Lilienthal, den Intendanten und Regisseur dieses abartigen, grandiosen Theaterereignisses sagen: “Die Lesung? Ach ja die Lesung. Von der hab ich auch nix mehr mitbekommen.” Da muss ich wieder an die Literaturkritiker und ihren Dante denken. Manchmal muss man etwas nachsichtig sein mit sich selbst.

Dann gehe ich schlafen.