Schönheit und Schrecken der dritten Dimension

Zu den Abwechslungen, die so eine Sommerfrische mit sich bringt (neue Getränke, von denen in Berlin noch nie jemand gehört hat: Hugo!; nostalgische Flashbacks: Löwenzahnmilch ist ein natürlicher Klebstoff für Gänseblümchenkränze!; soziologische Sensationen: Mickey Maus-T-Shirts, die sich über dicke Nachbarskinderbäuche spannen!), gehört in diesem Jahr ein 3D-Fernseher. Von Dingen dieser Art hat man schon gelesen. zum Beispiel als Schlagzeile bei SPIEGELonline in der Rubrik “Netzwelt.” Die Autorin war außerdem völlig unfreiwillig auf der diesjährigen CeBIT, wie es der Zufall will, vor einem 3D-Screen platziert, wo sie aufdringlicher Laufkundschaft das System desselben erklären musste (warum, das ist eine andere Geschichte). Sonst aber gehören Innovationen dieser Art einer Lebenswelt an, die nicht die ihre ist. Wer sich für gebildet, hip (vor allem hip) und unkonventionell hält, besitzt nicht mal einen Retro-Röhrenfernseher. Oder vielleicht schon, aber dann nur als scheinbar beiläufiges Dekoelement, schließlich wohnt man ohne TV-Anschluss.

Jetzt also: Fernsehen. Und das in 3D. Ein Bildschirm mit den Ausmaßen eines WG-Küchentischs, schwarz, matt, perfektes Design. Szenario Eins: Papa, Mama, Kind sitzen einträchtig nebeneinander auf dem eierschalengelben Ledersofa, in halb liegender Position (der elektrischen, stufenlos-regulierbaren Mechanik sei Dank). Alle drei tragen Brillen, ein etwas merkwürdiges Exemplar mit quadratischen Gläsern (wie eine Sonnenbrille, Modell “Matrix”), mit fragilen Bügeln und einem Sender am Hinterkopf. Wir sehen, daran zweifle ich nicht, so dämlich aus, wie sich Menschen in den 70ern die Zukunft, sprich: Kino in 3D vorgestellt haben. Nur, dass unsere Gläser nicht grün und rot, sondern verwegen-dunkel sind. Ein Wahnsinns-Dolby Suround System bläst einem die Actionakustik um die Ohren. In Griffweite, das muss klar sein, die Weintrauben, das Weinglas, die Wasserflasche. Wir sehen: “Hugo Cabret”, den neuesten Film von Martin Scorsese, ein Film, für den ich an der Kinokasse nicht mal einen symbolischen Euro ausgeben würde. Wie man sich täuschen kann, wie einen dieser verdammte elitäre Cineasten-Snobismus manchmal um die großen Filmerlebnisse bringt! “Hugo Cabret” ist nämlich mit wenigen Abstrichen ganz zauberhaft. Der Titelheld lebt als Waisenkind im Inneren der Uhren des Pariser Hauptbahnhofs – wie absurd ist das bitte? – und klaut sich neben seiner Tätigkeit als Instandhalter eben dieser Bahnhofsuhren Einzelteile zusammen, um einen Maschinenmensch zu reparieren. Dieses Menschlein, man denkt da an die vielen Automaten der Kulturgeschichte, Hofmanns Olympia, Paul McCarthys Gruselpuppen, Cindy Sherman, ist alles, was Hugo von seinem verstorbenen Vater geblieben ist, dementsprechend ehrgeizig verfolgt er seinen Plan. Mit Hilfe von Isabelle, die den passenden Schlüssel (in Herzform!) um den Hals trägt, entlockt er der Maschine eine Zeichnung. Diese führt zu Isabelles Onkel, dereinst ein großer Filmemacher. Mit viel kindlichem Enthusiasmus und der Überredungskunst eines Filmwissenschaftlers (den man im Filmwissenschaftsinstitut der heimischen Uni vorfinden könnte!), kann der grimmige Onkel überzeugt werden, seine Filme wieder dem Pariser Publikum zugänglich zu machen.

Auf der Metaebene (die ich, pardon, als Geisteswissenschaftlerin immer immer mitdenken muss) geht es natürlich um die Analogie von Film und Animation, bzw. “traditionelles” Kino und die dritte Dimension. So wie das Einfahren eines Zuges (Ende des 19. Jahrhunderts von den Brüdern Lumière auf Film gebannt) damals die Zuschauer panisch zur Seite springen ließ, weil sie glaubten, überfahren zu werden, so duckt sich der Mensch in den Nuller-Jahren reflexartig vor aus dem Fernseher herausschießenden Pfeilen, vor Vögeln im Sturzflug und Feuerwalzen, die ins heimische Wohnzimmer rollen. Scorsese holt uns da ab, wo wir stehen, auf der Schwelle zu einer Revolution der Sehgewohnheiten (so, stelle ich mir vor, wird bei Media Markt für einen 3D-Fernseher geworben), weil wir alle ja immer so schnell gelangweilt sind.

All die rotierenden Zeiger auf den überdimensionalen Ziffernblättern, die Maxi-Zahnräder und Mini-Uhrwerke wirken wie eine Installation von William Kentridge, die auf die Vergänglichkeit und Unverfügbarkeit von Zeit verweisen. Einen nicht geringen Anteil an deren gigantischer Präsenz und überhaupt an der Überzeugungskraft dieses Films – denn, mal ehrlich, wenn man verlorene Jungs mit wirren Haaren und stechend blauen Augen auf der Leinwand sehen will, dann doch eher Harry Potter – hat zweifellos der 3D-Effekt. Spektakelgeil halten wir die Luft an und warten ungeduldig auf den nächsten Hammereffekt. Weil die Staubpartikel bitte schön so wirklichkeitstreu wie möglich im Sonnenlicht fliegen sollen und wir jede Pore auf Ben Kingsleys von einem Schweißfilm überzogenen Gesicht sehen wollen. Oder wollen wir das vielleicht doch nicht? Wenn man mal die Tagesschau in HD gesehen hat und sich wahlweise auf die dicke Make-up Schicht der Moderatorin oder die Aknenarben führender Politiker konzentriert, denkt man anders. Und wenn man das ruckelnde Bild des winzigen Laptopbildschirms gewohnt ist und das ewige Warten aufs Fertig-Buffern, dann ist Kabelanschluss schon wie Weihnachten.

Und wie sehr fürchtet man sich vor allen kommenden technischen Innovationen, wenn man sich wiederfindet im zweiten Szenario: Einem Konzert der “Scorpions” auf dem 3D-Gerät. Diese schlimmste aller deutschen Band, die gewiss den Ruf Hannovers als ereignislose Stadt entschieden mitgeprägt hat (Bandleader Klaus Meine hierzu: “In Hannover gab es immer eine gute Szene”), möchte ich nicht im Radio hören, nicht im Fernsehen sehen, ich möchte keine Interviews mit ihnen lesen und keinen Merchandising-Artikeln begegnen. Wenn überhaupt, soll einer wie Benjamin von Stuckrad-Barre darüber schreiben, so geschehen in seinem grandiosen Buch “Deutsches Theater.” Stuckrad-Barre beschreibt seine Begegnung mit Klaus “Pathosspezialist” Meine, mit einer kaum versteckten Boshaftigkeit angesichts dessen Klage, die Leute wollten immer nur das eine Lied hören. Es reicht ja schon, eine kehlige Frauenstimme die deutsche Übersetzung von “Wind of change” vorlesen zu lassen:

Die Luft bringt uns Zukunft, ich fühle sie überall mit der Brise der Veränderung herbeiwehen…                                                      Dieser Sturm des Neuanfangs bläst geradewegs ins Antlitz der Gegenwart,                                                                               vergleichbar mit einem Orkan, der die Freiheitsglocke läuten lässt…                                                                                                              Lass Deine Balalaika übersetzen, was meine E-Gitarre ausdrücken möchte. Nimm mich mit zur Magie des Augenblicks in einer wunderbaren Nacht, dort, wo die Kinder von morgen ihre Träume teilen, mit Dir und mit mir.

Anders als mit Humor an der Grenze zum Zynismus kann man der Tatsache nicht begegnen, dass mehr als die Hälfte der Deutschen “Wind of Change” mitpfeifen kann und dieses Un-Lied eine eigene Wikipedia Seite hat. Wie der Tatsache, dass dessen Text zu einem der wenigen gehört, die ich auch viele Jahre später noch aus dem Musikunterricht der Mittelstufe zitieren kann. Klar, dass “Die Brise der Veränderung” auch auf der Konzert DVD angestimmt werden muss, klar auch, dass Feuerzeuge geschwenkt und Taschentücher gewunken werden und junge Frauen auf den breiten Schultern älterer Rockertypen sitzen. Unfassbar, dass die da auf der Bühne sämtliche Klischees bedienen, die man als Anti-Rockkonzert-Gänger so hat: Synchrones Gitarrensolo, im 45 Grad Winkel abgespreiztes Lederhosenbein, bis unter den vertretbare Brustmitte aufgeknöpftes Hemd.

Es gibt deutsche Realitäten, denen will ich mich nicht stellen. Nicht analog anwesend in der Konzerthalle, nicht in 2D und schon gar nicht, wenn Rudolf Schenkers E-Gitarre ins Wohnzimmer ragt, langhaarige Kerle das Teufelszeichen in meine Richtung strecken und die unvermeidlichen Pyroeffekte auf mein Sofa prasseln. Was bei Hugo Cabret, positiv betrachtet, zu einer neuen (wenn auch auf Dauer anstrengenden) Wahrnehmung führt, ist hier penetrant, nervtötend, menschlich nicht vertretbar. Man sehnt sich dann beinahe nach dem ruckelnden Laptopbild oder nach dem Satz “Dieses Video ist in Deinem Heimatland nicht verfügbar :-(“. Nach der Sommerfrische kommt die fernsehfreie Zeit.