Reisen wie ein Bürger, denken wie ein Depp

Im Prinzip wartet man nur auf diesen einen Moment: Dass sich der, wenn man so will: Protagonist die getönten Gläser seiner völlig unironischen Spießerbrille nach oben klappt, weil doch alle dicken, weißen Männer auf Urlaub passend zu ihren Khakishorts so ein Ding auf der Nase haben. Lesebrille, Sonnenschutz, aus zwei mach eins! In der Summe der Inbegriff der deutschen Kleingeistigkeit.

„There is nothing so strange in a strange land, as the stranger who comes to visit it.“ Große Worte, die der australische Regisseur Dennis O’Rourke seinem semi-dokumentarischen Film „Cannibal Tours“ voranstellt.  Sein Gegenstand, das sind die weißen, westlichen Touristen, die wohlbehütet von einer (praktisch unsichtbaren) Reiseleitung Papua-Neuguinea erkunden. Unter ihnen ein italienisches Trio, vielleicht eine Kleinfamilie, wobei die Frau sehr dünn, sehr schön und sehr gut gekleidet ist und kaum zu Wort kommt, hingegen ihr Sohn (?) mit sehnigen Gesichtszügen gesegnet und einer starken Meinung. Sein Befund zur Lage des Landes: Wohlgenährte, scheinbar zufriedene Eingeborene, aber: „Da ist noch viel zu tun!“ Also Ärmel hochgekrempelt und los geht es! Ferner ein US-amerikanisches Ehepaar, dessen weiblicher Teil sich als Kunstliebhaberin offenbart, wobei ihr besonders die sogenannte „primitive Kunst“ eine Herzensangelegenheit ist. Und schließlich der Deutsche, dieser Koloss in Shorts und Sandalen. Stets zur Hand: Fotoapparat und Aufnahmegerät, dem er im schnarrenden Tagesschau-Tenor äähm Ortsbeschreibungen diktiert. Trotz tadellosem Englisch antwortet er seinem Gegenüber stets auf Deutsch, ein Fels in der Brandung der nationalen Sprachpflege. Und anderer deutscher Befindlichkeiten: Was war zuerst da, das Frühstücksei oder das Cholesterin?

Zu den Grobheiten der Reisegruppe gehört das Feilschen um Waren, die, in mühevoller Handarbeit hergestellt, die Lebensgrundlage ihrer Erzeuger sind. Inflationäre Verwendung findet der Begriff des „second price“, also der Vorschlag, nur die Hälfte zu bezahlen. War es nicht früher einmal so, dass man vor der Abreise lernte, was in der Landessprache „Bitte“, „Danke“ und „Guten Morgen“ heißt und nicht, wie man die Einheimischen über den Tisch zieht? Auch das mit den Gastgeschenken scheinen diese Tölpel nicht ganz kapiert zu haben: So wenig, wie man sich auf deutschem Boden über Kölschwasser freut („Cologne, that’s a big city in germany!“), so seltsam finden das auch die zwangsparfürmierten Inselbewohner.

O’ Rourke unterlegt die wie beiläufig festgehaltenen Reiseszenen gelegentlich mit einem Streichquartett von Mozart. Durch diese vermeintlich erhabene Musik der „weißen Kolonialherren“ entsteht ein mulmiges Moment, das zu der seltsamen Feststellung des Deutschen passt, man befinde sich hier „im anderen Teil Europas.“

Der Anblick der manikürten Italienerin, die eine Gruppe eingeborener Kinder um sich schart – alles nur für die Kamera! – und dann noch ausruft: „Can you smile?“, weckt unangenehme Assoziationen an die ungeliebte Tante, die einen dereinst mit Küssen zu ersticken drohte. Warum die Tante immer Fotos machen wollte, hat man damals wie heute nicht recht verstanden. Das Pendant zur dicken Tante, die einen zu Tode herzt, ist der bierbäuchige Onkel, der seinem Neffen die Welt erklärt. Gütig, geduldig, wissend, dass das Wesen auf seinen Knien weit davon entfernt ist, ein eigenes Urteil zu fällen. Nach der Zukunft der Bewohner von Papua-Neuguinea befragt, prophezeit der Tarnfarben-Deutsche jenen ein langes Leben im jetzigen Zustand: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann töpfern sie auch in zehn Jahren noch niedliche Tongefäße! Getreu dem Motto „sapere aude“ begleitet der märchenerzählende Onkel seinen Schützling durch die Widrigkeiten des Nicht-Wissens. In einer teleologischen Lesart steht am Ende des dunklen Tunnels natürlich das helle Licht der Aufklärung.

Was aber, wenn der Junge dem Erwachsenen etwas voraus hat? Einmal abgesehen von einer unbändigen Vorstellungskraft und einer magischen Fantasie: Warum soll das Kind nicht zur Selbstreflexion in der Lage sein? Was, wenn es dem altklugen Onkel einen Streich spielt, so wie es den Überwältigungsversuchen der Tante standhält, wissend, dass sie ihm am Ende des Besuchs einen Geldschein zustecken wird? (Die pervertierte Umkehrung dieses Tauschhandels – Ware gegen Zuneigung – ist die Szene, wo der Tourist Filterzigaretten, sogenannt: „smokey sticks“, an die umstehenden Inselbewohner verteilt. Man denkt da an das zu zweifelhaftem Ruhm gelangte kettenrauchende Youtube-Baby; verwirft diese Assoziation allerdings im selben Moment, weil dies eine Gleichsetzung der Reflexionsebenen von Kleinkind und indigener Bevölkerung bedeutete, die wir doch unbedingt zu widerlegen suchen.) Mit bewundernswertem Pragmatismus lassen sich die Einheimischen abknipsen, posieren für die Kamera und lächeln bei Gelegenheit: „Wir sind nett zu den Touristen.“ Dass diese Zuneigung eine falsche, da erkaufte ist: Das wissen sie. Aber wissen das auch die Touristen? Für die Dauer der Reise solidarisieren sich Deutsche, Italiener, Amerikaner. Allesamt wähnen sie sich als Vertreter des zivilisierten Westens. Was, wenn das Kind auf ihrem Schoß gegen die Ungerechtigkeit des Geldzyklus zu rebellieren beginnt? Wie lange können sie es mit Leckereien ruhig stellen?

In einer der eindrücklichsten Szenen erzählt einer der Eingeborenen, wie seine Vorfahren beim Eintreffen der ersten Weißen glaubten, die Toten seien auferstanden. Heute glaube sein Volk natürlich nicht mehr daran – aber sie sagten, dass sie daran glauben. An dieser Stelle vollzieht „Cannibal Tours“ eine Wandlung: Vom voyeuristischen, fremdschämenden Blick auf eine Horde einfältiger Touristen zu einer Reflexion über Inszenierung und den fremden Blick auf das Eigene. Wenn die indigenen Papua-Neuguineaner wissen, woher die Weißen kommen – aus dem reichen Westen nämlich, nicht aus dem Totenreich – warum halten sie einen archaischen Glauben aufrecht? Warum bedienen sie die weiße Gier nach Authentizität, obwohl sie zugleich die ungerechte Verteilung der monetären Mittel beklagen? Warum tun sie alles dafür, das Klischee des Primitiven zu manifestieren? Und die andere Seite? Wie verhält sich die exponierte Weltenbummler-Haltung der Reisenden zur Annahme, die Einwohner stünden erst am Anfang einer Wandlung hin zum vollwertigen Menschen? Es gibt sie ja, die kleinen Anzeichen einer Selbstreflexion, ein Verdacht, die Inselbewohner könnten das wahrhaftigere Leben führen und die Furcht, der Kapitalismus werde dem ein Ende setzen. Vorboten sind das Pepsi-T-Shirt eines jungen Mannes und die energische Forderung der alten Frau nach den ausländischen Dollars.

Für grundlegende Gedankenumschwünge scheint die Sonne aber zu grell, liegen die fragilen Götzenbilder zu 2 Dollar das Stück zu gut in der Hand. Und ach: Am Ende des Films verwandeln sich einige Reiseteilnehmer mittels Gesichtsbemalung und Baströckchen in Eingeborene, ein infantiler, großartiger Spaß für alle Beteiligten. Wer sind hier die Kannibalen? Die exotikgeilen Touristen? Oder die angeblich menschenfressenden Eingeborenen? Wenn man so will ist der absurde Karneval der Reisegruppe auch eine Art von Kannibalismus, auf die der Titel des Films in doppelter Lesart anspielt: Indem man sich das Fremde einverleibt (hier nicht im physischen, sondern im übertragenen Sinn durch Imitation), macht man es sich zu eigen.

Fürchtet Euch, fürchtet Euch sehr, denn die Toten sind auferstanden. Sie tragen Tarnfarben und Pilotenbrillen mit hochklappbaren Gläsern und fürchten sich vor zu viel Cholesterin.