Reisen macht den Kopf frei

Wie wir uns suchen und finden, fernab der großen Stadt. Wie Hände geschüttelt, Namen genannt und in erstaunlich kurzer Zeit, Sekundenbruchteilen, um genau zu sein, wieder vergessen werden. Es folgt der subtile Territorialkampf, wer sitzt wo. Heute habe ich, mit Verlaub, die Arschkarte gezogen, sitze auf der Rück-Rückbank, auf einer 30×30 Zentimeter kleinen Fläche, die Beine angezogen, von links ragt ein laut Aussage seines Besitzers nicht vorhandenes fünfzehn Kilo Gepäckstück in mein Blickfeld, das von Zeit zu Zeit, besonders bei Autobahnauffahrten mit Rechtskurven, auf mich fällt. Zu meiner Linken sitzt ein Mädchen osteuropäischer Herkunft, das mit niedlichem Akzent von ihrer musikalischen Karriere erzählt, die eigentlich ganz gut läuft, aber hey, Majorlabels sind richtig scheisse. Ich finde sie sehr nett; im Profil, vor dem hellen Winterhimmel, kann ich den feinen Flaum auf ihrem Kinn sehen, was aber gar nicht schlimm aussieht, aber ordentliche Konversation verhindert schon der Monsterkoffer zwischen uns. Vor mir sitzen: Ein Mädchen, das wohl irgendeine Augenkrankheit hat, denn es kann einen nicht direkt anschauen, denn ihr Blick schielt immer leicht nach rechts. Auch wenn man vernünftigerweise auf so etwas keine Rücksicht nehmen sollte, wirkt es doch so irritierend, dass man beschließt, dass es ganz gut ist, dass sie sich nicht so oft umdreht, und daneben ein BWLer und wieder einmal stelle ich fest, dass es mit den Vorurteilen doch nicht soweit her ist. Er trägt BWLer Schuhe, die erstaunlicherweise nur minimale Abweichungen von wirklich coolen Schuhen aufweisen und lamentiert über das Bachelorsystem und dass er schließlich keine Zeit zum Demonstrieren hat. Auf dem Beifahrersitz sitzt Julian, ein sehr gut gekleideter Szenetyp.

Bis Stuttgart bewege ich mich am Rand des Deliriums: Die Stimmung wechselt zwischen totaler Euphorie die Musik betreffend, gleich kommt die beste Stelle, jetzt wirklich so laut als möglich, toll!, und der hysterischen Gewissheit, dass ich ganz bestimmt in der nächsten halben Stunde zum ersten Mal eine Thrombose bekommen werde, denn wenn nicht, dann ginge das nicht mit rechten Dingen zu, denn bewegen geht wirklich gar nicht. Ich kriege aber keine Thrombose, nur die Erkenntnis, dass in diesem einen Lied von Xavier Naidoo, zu hören bei BigFm, dem, wie ich mit gutem Gewissen sagen kann, mit Abstand schlechtestem Radiosender deutschlandweit, ein ziemlich intensives Scratchgeräusch zu hören ist, was mir bisher nie auffiel, aber plötzlich macht dieser Song echt Sinn und ich freue mich schon, es allen zu erzählen, bis ich merke, dass das die Scheibenwischer sind, die den süddeutschen Schnee von der Scheibe wischen –

Und dann sind wir da, zumindest fast. Julian steigt an einer Tankstelle mit Ortsschild aus und ich staune, wie klein sein Dorf ist, denn wäre er mir in Berlin über den Weg gelaufen… aber das ist ja oft so. Wie er da steht, mit seinen hippen Sneakern, der Röhrenjeans und dem Pelzmützchen und tapfer dem eisigen, schwäbischen Wintersturm trotzt, fernab von seiner Prenzlauer Enklave (nur eine Vermutung) und sich dann zum Fahrer beugt und sagt: “Danke, gell!”, da muss ich lächeln und weiß, dass ich fast zu Hause bin.