Erst Rausch, dann Kater

Vortrinken.

Die Bühne sieht aus wie ein Sonntagmittag in der Bar 25. Es ist ja auch alles Zirkus hier, zum Beispiel der Affenmensch im Prolog, der erst gebückt geht, sich schließlich aufrichtet, um Komplimente zu verteilen und einem Mädchen in der ersten Reihe einen Kuss auf die Wange zu drücken und dann die Attraktion des Abends präsentiert: eine schöne Stute mit Klimperwimpern und Pferdegebiss und da, wo die Hufe sein sollten, stehen zarte Frauenbeine in Highheels. Dann öffnet sich der Vorhang und die Bühne ist zunächst nichts weiter als eine hölzerne, trapezförmige Konstruktion mit einer Vertiefung in der Mitte. Auf der so entstehenden schiefen Ebene rennen die Figuren oft im Kreis, besonders Woyzeck, dabei haben die schnellen Menschen doch immer etwas zu verbergen, meint Woyzecks Arzt. Dieser Arzt hat bekanntermaßen den ehrgeizigen Plan zu beweisen, dass der Mensch allein von Erbsen nicht leben kann, dass früher oder später unheimliche Dinge mit ihm passieren, wobei der unregelmäßige Puls noch zu den harmloseren Symptomen gehört. Dieser Mensch ist Woyzeck und während des ganzen Dramas stellt er seine Person nicht einmal in Frage, sondern füllt die Rolle des gefügigen Versuchskaninchens widerstandslos aus. Woyzeck, ein Opfer des Systems? Woyzeck ist arm und bescheiden, er wünscht sich nicht mehr als die Liebe der zarten Marie, die Mutter seines Sohnes, dieses „Hurenkindes“. Von Luft und Liebe kann man dann auch gut leben, aber für Woyzeck ist selbst dieses Glück so unerreichbar wie der weiße Luftballon, der unaufhaltsam in den Bühnenhimmel schwebt.

Tanz.

Marie hat ihr Herz nämlich an den Tambourmajor verloren und in Robert Wilsons Inszenierung sieht dieser mit seinen mittellangen Haaren ohne erkennbaren Schnitt, seinem funky 70er-Jahre-Anzug und der Hornbrille genauso skurril aus wie man sich einen Tambourmajor vorstellen würde, wenn man denn wüsste, was ein Tambourmajor ist. Wenn Marie ihn umarmt, dann können ihre Hände ihn nicht ganz umfassen und sie krallt sich hilfesuchend in die Speckröllchen. Spätestens da zweifelt man an der Wahrhaftigkeit von Maries Gefühlen und gleichzeitig mag man sie für ihre zaghafte Freude an den weißen Stöckelschuhen und den glitzernden Ohrringen, in denen sich die wilde Liebe des Majors manifestiert, nicht verurteilen. Also tanzen die beiden, der dicke Tambourmajor und die schmale Marie und das rothaarige Mädchen mit der Ziehharmonika sitzt am Rand und blickt voll Eifersucht herüber.

Im Hintergrund der Bühne stehen die Musiker, junge Männer mit großen Kontrabässen und spielen wehmütige Lieder. Die sind von Tom Waits und man freut sich, wie sie sich einfügen in die Büchners Wahnsinnsfragment, auch wenn der Text nicht immer zu verstehen ist. Wenn man aber den Liedzeilen folgen kann, dann klingt das so wunderbar wie A good man is hard to find/ Only strangers sleep in my bed. – und die Musik ist weder Überbau noch Fundament und produziert kaum neue Erkenntnisse in der Lesart des Dramas, aber sie ist schön. Schön ist überhaupt vieles in dieser traumwandlerischen Inszenierung, wenn der Tambourmajor etwa zum ersten Mal die Bühne betritt und mit Tischfeuerwerk um sich knallt und Konfetti regnen lässt. Oder wie die Schauspieler mit einem beherzten Sprung vom Holztrapez in den Bühnenboden verschwinden. Selbst Maries Tod folgt dem ästhetischen Konzept, wenn Woyzeck das Rasiermesser ansetzt und mit ruhiger Hand und fast zärtlicher Geste ihren Hals durchschneidet und das Blut in einem feinen Rinnsaal Spuren auf ihrem Klein-Mädchenkleid hinterlässt.

Rausch.

In manchen Momenten scheint Woyzeck doch aufzubegehren, dann nämlich, wenn er von der Ewigkeit spricht, vom Himmel, der dann am schönsten ist, wenn er grau ist und fest und von der menschlichen Existenz. Es sind die zaghaften Versuche eines Geistes, der gern frei wäre, aber gefangen ist im Körper eines einfachen Arbeiters, der von seinem Herren, einem grimmigen Hauptmann in buntem Kostüm, niemals persönlich angesprochen wird, sondern immer nur in der dritten Person. Woyzeck als Opfer seiner unfertigen Gedanken? Oder sind es die Erbsen, die er zählt und die ihn Stimmen hören lassen und wiehern wie ein Esel? Der Tambourmajor weiß Hilfe, „Sauf! Sauf!“, und der klare Schnaps wird großzügig auf die Bühne geleert und auf Woyzecks Gesicht. Dazu regnet es wieder Konfetti und man ahnt schon, dass es kein gutes Ende nehmen wird. Alle sind Getriebene, der Tambourmajor ebenso wie der Arzt und der Offizier und alle singen sie grimmige Lieder und stampfen dazu auf den Boden, mit Ausnahme von Marie, deren sanftes Wiegenlied auch nach ihrem Tod noch nachklingt. Robert Wilson ist es zu verdanken, mehr noch als der Musik von Waits, dass die Schönheit in seinem Woyzeck die Oberhand behält, trotz dem Elend des kleinen Mannes. Es ist aber eine unheimliche Form von Schönheit, so wie die eines bunten Zirkuszeltes, in dem man sich nicht entscheiden kann, ob man die Fratzen der Clowns lustig finden soll oder sich vor ihnen fürchten.

Kater.

Das Licht geht an und Woyzeck steht inmitten zertretener, schnapsgetränkter Konfetti. Am Ende der Nacht hat er sich seine Marie zurückgeholt, nur dass sie jetzt tot ist, aber frieren muss sie nicht mehr, denn „kalte Körper frieren nicht mehr.“ Woyzeck, ein Opfer der Justiz? In der Inszenierung am Deutschen Theater bleibt diese Frage unbeantwortet, der Protagonist steht einfach da wie jemand, der gar nicht glauben kann, dass er jetzt nach Hause gehen soll. Der Vorhang schließt sich und es wird eine letzte Geschichte erzählt. Der Sohn von Woyzeck und Marie, dieses „Hurenkind“, ist jetzt ganz allein auf der Welt. Ihm steht dasselbe von Armut und Leiden geprägte Schicksal bevor wie seinen Eltern. Von Luft und Liebe allein lebt es sich eben doch nicht so gut, darüber können auch die bunten Konfetti nicht hinwegtrösten.

Was bleibt, wenn der Vorhang gefallen ist, ist verblasste Schönheit und ein schales Gefühl wie der taube Kopfschmerz nach einer durchfeierten Nacht mit den schwermütigen Klängen von Tom Waits im Ohr.