Puls über Null – eine Lanze für die One-to-One-Performance

In seinem kürzlich erschienenen Buch “Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos” klagt Rüdiger Schaper über die Kraftlosigkeit des gegenwärtigen Theaterbetriebs. Als Leiter des Kulturressorts des Tagesspiegels schöpft Schaper aus dreißig Jahren Seherfahrung. Frühere Glanzlichter wie Gotscheffs “Perser” und Schlingensiefs “Kirche der Angst” überstrahlen ihm zufolge die müden Ausläufer der Gegenwart. Genau genommen zuckt es nur noch, das Theater. Er will, wie vermutlich jeder Theatergänger, im Innernsten getroffen werden, giert nach Ekstase und Affekt. Da bin ich ganz bei ihm. Wenn er allerdings das Künstlerduo Signa als “letzte Schwundstufe des Performativen” bezeichnet, widerspreche ich aufs Entschiedenste. Die Wahrscheinlichkeit, in deren begehbaren Installationen eine existentielle Erfahrung zu machen, ist sehr hoch. Das soll nicht heißen, dass klassisches, nennen wir es “Vierte-Wand-Theater” nicht toll sein kann; Gotscheffs “Perser” habe ich wie Rüdiger Schaper als beeindruckend in Erinnerung. Aber ein nach oben schnellender Puls, ein klopfendes Herz, ein Schwindel ereilte mich dort nicht, eher ein theoretisch-durchgeistigter Genuss. Wenn ich auf meine (zugegeben bescheidenen) zehn Jahre Seherfahrung zurückblicke (maximal die Hälfte davon intensiv), dann sind die Mehrzahl der bleibenden Erinnerungen solch “theatralen Parcours” zuzurechnen.

Beim Theatertreffen hatte ich nicht mit etwas Derartigen gerechnet. Statt des Stückemarkts, wo in den vergangenen Jahren in szenischen Lesungen junge Dramatiker zur Aufführung kamen, wählen in diesem Jahr drei Mentoren drei künstlerische Positionen aus. Eine davon ist Mona el Gammal, nominiert von Signa Köstler, der einen Hälfte jenes Künstlerduos Signa, das Schaper so sehr missfällt. Mona el Gamma hat bereits mit Signa zusammengearbeitet, als Bühnenbildnerin bei “Schwarze Augen, Maria.”  Man kann das Vetternwirtschaft schimpfen, aber dass auch die hehre Theaterwelt nicht frei ist von Vitamin-B-Strukturen ist ja wohl klar.

Signa als Mentor? Das klingt mehr als vielversprechend. “Haus Nummer Null” heißt el Gammals Beitrag, eine “Zeit- und Rauminstallation.” Wo diese zu finden ist, erfährt der Besitzer eines Tickets erst zwei Tage vorher per Mail. In deren Anhang findet sich ein “Symptomekatalog während oder nach dem Aufenthalt”, der unter anderem “leichte bis mäßige Kopfschmerzen”, “Allgemeine Antipathie gegenüber dem System und den Mitmenschen” und “Insomnie, Panikattacken, depressive Verstimmung” auflistet. Außerdem eine Liste von Regeln für die Dauer des Aufenthalts. Die vielversprechendste: “Sie dürfen das Haus ausschließlich allein betreten.” Vor dem Erhalt weiterer Informationen soll auf der Website des Instituts für Methode ein kruder Fragenkatalog abgearbeitet werden, zur Überprüfung des “intakten Gedankenguts.” Dann endlich rücken sie die genaue Adresse und den Zeitpunkt heraus, in meinem Fall der 13. Mai um 22.03 Uhr.

Mittwoch Abend radle ich zu der angegebenen Adresse, einem baufälligen Gebäudekomplex an der Grenze zwischen Mitte und Friedrichshain, ganz in der Nähe des Technoclubs Naherholungssternchen. Dankbar für das Smartphone in meiner Hand (an alle Technikskeptiker: wen fragt ihr nach dem Weg, wenn keiner da ist?), fahre ich drei Mal im Kreis, bis ich die Tür mit der Aufschrift “2. Klasse Block C” entdecke. Ich tippe den Code aus der Email auf das Tastenfeld, woraufhin aus der Gegensprechanlage der unglaubliche und absolut singuläre Satz ertönt: “Frau Biringer, Sie sind zu früh!” Tatsächlich, es ist erst 22.01 Uhr.

Zwei Minuten später werde ich eingelassen. Ich bin allein. Über den mit allerlei Stolperfallen versehenen Hof weist ein sanft blinkendes Licht den Weg zur nächsten Tür. Noch bevor ich sie erreicht habe, summt deren Öffner. Im Inneren ist es mäßig hell. Aus einem Lautsprecher gehen Anweisungen auf mich herab: Ich soll mich auf die Waage an der gegenüberliegenden Wand stellen, die ein “Nacktscanner” sein soll, mir die Hände desinfizieren. Ich leiste Folge. Ich bin allein.

Die angrenzenden Räume sind eine Mischung aus einer Grey’s-Anatomy-Kulisse und einem Science-Fiction-Set. Farblich dominiert Krankenhausweiß. Operationstische stehen neben blinkenden Gerätschaften, Monitore spucken Zahlenkolonnen aus, auf den Schreibtischen liegen Klemmbretter. Als ich ein Foto von einer Nierenschale mit blutigem Inhalt mache, grollt es aus dem Lautsprecher: “Das Erstellen von digitalem Bildmaterial ist verboten!” Schuldbewusst wandert das Smartphone zurück in die Tasche. Was bleibt, ist das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Bin ich allein?

Vorsichtig taste ich mich von Raum zu Raum. Hinter jeder Tür lauert der vermeintliche Schrecken, was auch daran liegen mag, dass ich kürzlich “World War Z” in 3D gesehen habe. Aber keine Zombies hier, nirgends. Überhaupt kein menschliches oder anders geartetes Wesen, abgesehen von den Stimmen aus dem Lautsprecher, auf die ich mich aufgrund meiner Hab-Acht-Stellung schwerlich konzentrieren kann.

Seit ich den Türcode eingegeben habe, und das ist einer der beiden interessanten Aspekte des “Haus Nummer Null”, warte ich auf Anweisungen, als ob ich meine Autonomie am ersten Tor abgegeben hätte. “Ich habe mich gegen die Freiheit und für die Sicherheit entschieden”, tönt es aus einem der Lautsprecher. In diesem Moment stehe ich auf der Schwelle zu einem Raum, der aus dem ästhetischen Rahmen fällt: das bezogene Holzbett, die vergilbte Tapete, das ordentlich bestückte Schuhregal erinnern an eine Klosterzelle. Diese Spuren von Leben beunruhigen weitaus mehr als die Wissenschafts-Chose drum herum. Dies ist die zweite Erkenntnis des “Haus Nummer Null”: In der permanenten Erwartung des Unerwarteten, nämlich des Auftauchens eines realen Gegenübers, offenbart sich die Sozialphobie. Die Regel, ohne Begleitung zu kommen, wird zum Versprechen, an das sich der Stresssituationsbewältiger klammert. In der Tat steigt mein Puls weit über Normalniveau, ich bin fahrig und verloren. Ganz so unrecht hatte dieses Institut für Methode also nicht mit der Warnung vor “leichten Angstgefühlen” und “gesteigerter Nervosität.”

Es scheint keinen anderen Ausgang zu geben als den Schrank im Klosterzimmer. Unter Aufbringung aller mir zu Verfügung stehenden Willenskraft öffne ich ihn. Vor mir liegt ein überdachter Hof, der mich an ein Arbeitslager denken lässt, der Himmel weiß, an welches Filmerlebnis das jetzt rührt. Auf der linken Seite öffnet sich eine elektrische Tür, aus deren Schlitz ein Zettel flattert. “Frau Biringer”, steht da, “ich konnte nicht warten da ich vertrauen habe.” Darunter ein weiterer Code, mittels dem ich auf einer Website mit “Gleichgesinnten in Kontakt treten soll.” Dann öffnet sich eine zweite Tür. Ich gehe hindurch und plötzlich stehe ich draußen. Es ist nicht mal zwanzig nach zehn, das war das kürzeste Theatererlebnis meines Lebens. Was, wenn ich nicht von selbst gegangen wäre? Hätte mich dann der Wächter verwiesen, von dem in der Email die Rede war (“Sollten Sie dem Hauswächter begegnen, verhalten Sie sich unauffällig und befolgen Sie seine Anweisungen”)?

Als ich mich auf die Suche nach meinem Fahrrad mache, entdecke ich Plakate an der Außenwand des Gebäudes, die mir zuvor nicht aufgefallen waren. “Wir machen Naherholungsurlaub zur Pflicht!” steht da und “Paradies.” Was die Message des “Haus unter Null” ist, bleibt zugegebenermaßen vage. Genforschung, Selbstoptimierung, Glückszwang, etwas in diese Richtung. Ohne Frage ein Kritikpunkt, wenn man vom Theater Eindeutigkeit fordert. Ich finde allerdings, es ist eine ganz schöne Leistung, jemanden in den folgenden Tagen über Beklemmungszustände in geschlossenen Räumen und die Dialektik von Anwesenheit/Abwesenheit nachdenken zu lassen. Das sei mal in Richtung Herr Schaper gesagt, der die Emotionalität im Performancetheater vermisst. Ich hatte meine Katharsis-Ration für diese Woche.