Oder Austern

Austernknacker, Vollzeit befristet, 1800 Euro pro Monat

Für unsere Austernbar – vor unserem Geschäft in stimmungsvollem Ambiente – suchen wir als tatkräftige Unterstützung vom 24. November bis 31. Dezember eine/n Austernknacker, der/die für unsere Gäste Austern öffnet auf Vollzeitbasis.

Ihr Anforderungsprofil:
Sie sind jung, charmant, dynamisch, freundlich und stressresistent
Zuverlässigkeit und gute Umgangsformen sind für Sie ebenso selbstverständlich wie Teamgeist, Diskretion und ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild
Sie verfügen über sehr gute Deutschkenntnisse und sprechen auch Englisch
Voraussetzung ist, dass Sie geschickt und flott sind

Flott nehme ich die dreiunddreißig Steinstufen in den ersten Stock. Wie niedrig die Stufen in Vietnam waren, denke ich mir, als mein Blick wie üblich durch das Fenster auf halber Höhe des Treppenaufgangs fällt. Balkonneid, der: Besonders akut während der Sommermonate, wenn die Nachbarn auf Sitzsäcken laue Abende genießen. Natürlich würde ich als Balkonbesitzer die Sitzsäcke gegen ernstzunehmende Möbel austauschen. Den Sommer habe ich in würdevoller Haltung auf zwei Arten verbracht, entweder lesend auf dem Platz vor der Kirche oder lesend auf dem Fensterbrett. Wenn man sich mehr als würdevoll weit nach draußen lehnt, sieht man das Belvedere. Ich nenne es meinen Prekariatsbalkon, halb im Scherz.

Vor einigen Sommern haben D. und ich eine Neid-Liste ins Leben gerufen. Beschränkt man sich auf eine einzige, verlieren die sieben Todsünden jeglichen Schrecken. Es gibt praktisch nichts, worauf D. und ich nicht neidisch wären. Wifi-Neid, Ausgeschlafen-Sein-Neid, im-Urlaub-die-Landesprache-sprechen-Neid, Abstinenz-Neid, Nicht-Abstinenz-Neid, Gästelisten-Neid, die-Früchte-seiner-Arbeit-ernten-Neid, Mietvertrags-Neid. Eine Ausnahme stellt, wie gesagt, der mir unbekannte Sitzsack-Neid dar.

Mit sinkenden Temperaturen lässt dann auch der Balkon-Neid nach. Statt auf dem Fensterbrett, lese ich jetzt wieder im Bett, auf meiner extraharten IKEA-Matratze. Sie ist ein Geburtstagsgeschenk meiner Mutter, das mich vergangenen Winter einige Nerven kostete. Abgesehen vom emotionalen Wert eines Gegenstands, der einen durch die erste Hälfte der wilden Zwanziger begleitet hat, konfrontierte mich deren Auswahl mit den üblichen Entscheidungsschwierigkeiten. Erschwerend kam hinzu, dass sich SULTAN nicht mal eben umtauschen lässt. Einmal entrollt, ist er ohne die Hilfe eines IKEA-Mitarbeiters unmöglich wieder in seine ursprüngliche Walzform zu bringen (Unter den vielen, in meinem Freundeskreis vertretenen Berufen fehlt jener des IKEA-Mitarbeiters). Dass ich meine Entscheidung dann doch mit halbwegs leichtem Herzen traf, lag an der Aussicht auf den Riesenspaß, den ich dabei haben würde, meine alte Matratze gesetzeswidrig in Brand zu setzen. Und an der IKEA-Family-Card, Leihgabe eines Bekannten, die lebenslanges Umtauschrecht garantiert. Zwar war damit das möglicherweise auftretende Rücktransportproblem nicht aus der Welt geschafft, aber wie sooft reichte die theoretische Möglichkeit aus, um mich mit meiner einmal getroffenen Entscheidung zu versöhnen. Wenn es mir im Restaurant gelingt, die Speisekarte zur Seite zu legen, sobald mir ein Gericht gefällt, anstatt sie von vorne bis hinten durchzulesen und dann wieder von vorne anzufangen – dann, stelle ich mir vor, ist meine Seele ein Sitzsack, ganz in sich ruhend, ganz im Flow.

In dem Maße wie der Balkon-Neid abnimmt, steigt der zur Obergruppe Struktur-Neid gehörende Festanstellungs-Neid. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wenn es draußen kalt ist, lässt auch das Fomo nach, also das Gefühl, etwas zu verpassen (Kehrseite des Erlebnis-Neids). Ab September ist Arbeiten im Großraumbüro total okay. Statt im Krapfenwaldbad zu prokrastinieren, strampelt man im “Hamsterrad Vollzeitjob”, so genügsam wie die Flugzeugabsturzopfer in Fight Club, deren Gesichtsausdruck Brad Pitt mit dem hinduistischer Kühe vergleicht.

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An einem Samstagmorgen beginne ich mit der Jobsuche, natürlich vom Bett aus, denn für ein Sofa hat es bislang nicht gereicht (Sofaneid, der – Begleiterscheinung des Kulturprekariats: Jede Menge Platz in der Vier-Meter-Deckenhöhe-Altbauwohnung, aber nach Abzug der Miete kein Geld übrig, um sie auszustatten). Wie immer weiß ich nicht, was bei Google ich eigentlich eingeben soll. Job – Wien? Aus Spaß klicke ich mich durch die Suchmaske Gastronomie/Tourismus, bereits ahnend, dass ich für keines von beidem geeignet bin. Mit sechzehn habe ich mich als Wochenendaushilfe in einer Tapasbar versucht und war so durcheinander, dass ich meine eigenen Eltern als Gäste übersehen habe. Mit zwanzig kam ich zu spät zum Probearbeiten in einer Piadina-Bar, wurde nicht eingestellt und weiß bis heute nicht, was eine Piadina ist. Mit Ende zwanzig habe ich mich aufs Gast-Sein verlegt, das kann ich ganz gut.

Dann entdecke ich die Anzeige mit dem Austernknacker. Im Schwarzen Kameel war ich sogar schon mal Gast, diesen Teil meiner Persönlichkeit kennen sie also. Damals verkauften sie im vorderen Teil des Restaurants belegte Schnittchen und Champagner, die Stimmung war ausgelassen, ein bisschen wie in der Feinkostabteilung des KaDeWe mit dem Unterschied, dass „a Glaserl Champagner“ auf Wienerisch nobler klingt. Ob ich als Austernknackerin glücklich wäre? Oder wenigstens ein bisschen reich? Wie sieht es mit den Anforderungen aus? Jung, charmant auf jeden Fall, fragen Sie meine Mama. Stressresistenz ist mit einem vollen Champagnerglas auch kein Problem. Von Nachteil wären sicher die Arbeitszeiten, besonders an der Vorstellung, Heiligabend und Silvester eine professionelle Aura von Luxus zu verströmen, störe ich mich erheblich. Vermutlich würde ich eine ausgeprägte Form von Ess-, Trink-, und Vergnügungs-Neid entwickeln, als Hypochonder spüre ich die Symptome schon jetzt. Seufzend klicke ich die Anzeige weg. Hätte ich einen Balkon, würde ich jetzt in der Berufsuniform der Selbständigen, dem Morgenmantel, hinaustreten. Stattdessen öffne ich das Fenster und verrenke  den Kopf jung, dynamisch, arbeitssuchend in Richtung Belvedere.