Narziss und Toyboy

Manche Filme sind einfach schön. Obgleich man als Zuschauer deren perfide Mechanismen natürlich gleich durchschaut (Retro-Optik! Attraktive Darsteller! Perfekter Soundtrack!) lässt man sich davon einlullen. Xavier Dolan, Franko-Kanadier, bildhübsch, Darling des Indie-Kinos, schaut mit jenem sanften Blick auf die Welt, den der liebe Gott sich für die frankophonen Homosexuellen aufgespart hat. Manchmal kommt dieser Blick über die rein formelle Schönheit nicht hinaus, so war das bei “Herzensbrecher”, seinem zweiten Werk. Manchmal, wie bei seinem Debut “I killed my mother,” steckt zwischen all den feinfühlig inszenierten Hipster-Fantasien aber etwas Großes. Der heimische Kleinkrieg, die Schlachten am Abendbrottisch, die sich der Protagonist und seine Mutter liefern, bedeuten Dolans filmische Abarbeitung am Mutterkomplex und für uns Zuschauer einen amüsanten Exkurs in die Psychoanalyse.

Xavier Dolan in der Rolle des Hubert ist ein angry young man, der seine Mitschüler verachtet, seine Lehrerin auf platonische Art vergöttert und seine Mutter hasst. Sein erster Freund Antonin ist hübsch, der zweite, Eric, hübscher, c’est ça! Kein Wunder, dass es mit der Mutterliebe auch nicht klappt. Aber geht man sich wirklich so sehr auf die Nerven? So weit liegt die eigene Pubertät nicht zurück, als dass man sich nicht an das Teller Werfen und Rachepläne Schmieden erinnerte. Was nervt, ist die Plötzlichkeit, mit der sowohl der Protagonist als auch seine Mutter ihre Meinungen und gegenseitigen Zuschreibungen ändern. Im einen Moment fällt der Sohn seiner Mutter um den Hals, schreit: “Ich hab Dich lieb!”, im nächsten Moment wünscht er ihr den Tod. Dann steht er plötzlich wieder Rührei-mit-Koriander-kochend am Herd und kündigt schon das Abendessen an (Pasta mit Pesto!), nur um kurz darauf die Küchenschürze zu werfen. Okay, vielleicht war man selbst so, dereinst, als der Hormonhaushalt Kopf stand. Warum die Mutter aber kein bisschen standhafter ist als ihr pubertierender Sohn, warum sie ihren Liebling erst zur Videothek fährt, dann wie eine Furie in den Laden stürmt, weil er sie zu lange hat warten lassen, warum sie ihn aus dem Wagen schmeißt und ihn doch wieder jeden gottgegebenen Tag zu Schule fährt (das hat meine Mama nie gemacht), das bleibt verschwommen wie ein mit zitternder Hand aufgenommenes Polaroid.

In seiner Doppelrolle als Hauptdarsteller/ Regisseur betreibt Dolan eine Selbstbespiegelung im ursprünglichsten, nämlich im Ovid’schen Sinn. Dessen Narziss tat bekanntlich auch nichts anderes, als sein eigenes Spiegelbild zu bestaunen (wahrscheinlich war er nackt; aber lebte Narziss in der Gegenwart, er trüge gewiss die selbe Hipster-Uniform wie Hubert) – zwischenmenschliche Beziehung ausgeschlossen. So wie Narziss kommt auch Hubert in der Begegnung mit dem Anderen kaum über den bloßen Austausch von Körperflüssigkeiten hinaus. Für so etwas wie “Liebe” ist er zu sprunghaft. Unnötig zu erwähnen, dass der Austausch von besagten Körperflüssigkeiten makellos inszeniert ist. So etwa die Slow-Motion-Kopulation im Künstleratelier: Erst drippen Hubert und sein Toyboy Antonin in Jackson Pollock-Manier Muttis Büro voll (das Pollocks Name fallen muss, kann man problemlos unter name dropping verbuchen, denn ein hipper Mensch muss schon auch ein bisschen Ahnung von moderner Kunst haben, gell), dann drippen sie… Aber nein, keine schmutzigen Sprachspielchen, denn schmutzig ist hier ja überhaupt nichts. Die Sexszenen in “I killed my mother” enthalten die selbe Menge an Schweiß oder Sperma oder verzerrten Gesichter wie “Hotel Desire” (das ist dieser durch crowd funding finanzierte pseudo-skandalöse “Neo-Porno”), nämlich gar keine.

Alles atmet bien sûr diesen frivol-eleganten französischen Geist, jede Kameraeinstellung scheint auf ihren ästhetischen Mehrwert hin geprüft. Die Instagram-Bebilderung, die Super-8-Videos, die zahlreichen Verweise auf alles, was der Proto-Hipster gerne so in sein Leben hineinsampelt: Hippiespirit in Form von ungelenk gebauten Joints, Discopop unter der Discokugel, 80s Röhren und 90s Pullover, dazu jene Musik, die heute in den richtigen Clubs gespielt wird. Alle Darsteller sehen natürlich aus wie junge Götter (die männlichen zumindest) – allen voran Xavier Dolan, woran man dann also schon sieht, wohin seine mentale Reise geht: Eine allumfassende Ego-Schau.

Überhaupt diese Mutter! Bis kurz vor Schluss erweckt sie hauptsächlich unser Mitleid. Alleinstehend, unfähig, mit dem Rauchen aufzuhören und so viel hässliches Mobiliar in der Wohnung. Ganz abgesehen von ihren Kleidern und der schlimmen 80s Friese. Aber dann! Ausgerechnet in der Szene, wo sie einen pinken Mohairpullover mit schwarzen Schleifen vorne und schwarzen Troddeln hinten drauf trägt, emanzipiert sie sich. Als der Rektor des Internats, in das sie ihren Flegelsohn zwischenzeitlich abgegeben hat, anruft, um dessen Verschwinden zu melden, da bricht, so scheint es, all der jahrelang angestaute Mutterfrust und das Leiden am bösen Patriarchat aus ihr heraus und entlädt sich in einer sehr lauten, sehr befreienden Hasstirade. Bester Satz: “Ihr stolziert mit Euren dämlichen Bugs Bunny-Krawatten rum und wisst nicht einmal, dass man keine roten Socken in die Weißwäsche tut. Findest Du rosa Socken toll, du Arsch??” Wir schon! Mindestens so toll wie ihren pinken Pullover. Und ihr modebewusster Sohn hat bestimmt auch keine Angst vor colourblocking.

Beinahe schulmeisterhaft zeigt “I killed my mother” ein Beispiel vom ödipalen Komplex. Eine Thematik, die schon Shakespeare sehr beschäftigte (Hamlet!), vorher natürlich Sophokles, später dann Freud und diverse Künstler (Mike Kelley!) und Philosophen und Feministinnen (Julia Kristeva!) usw. usf. In Grundzügen geht es um das Abjekt, das Abstoßen vom Mutterkörper im psychischen Sinn (denn im physischen ist es ja bereits im Zuge der Geburt geschehen), das Teil der gesunden Entwicklung des Kindes ist. Entfällt dieses Abstoßen, entwickelt das Kind, insbesondere das männliche, mitunter einen Ekel vor der mütterlichen Sexualität. Dass dabei auch ein unbewusstes erotisches Begehren eine Rolle spielt, kann man komisch finden oder nicht; bei Dolan fände dies die Entsprechung im Geständnis des Protagonisten, er liebe seine Mutter, aber “nicht mit der Liebe eines Sohnes” und, dass er jeden umbringen würde, der ihr etwas antäte. Dass Hubert homsexuell ist, rundet das psycholanalytische Schema vorbildlich ab, denn wie könnte sich die Abkehr von der weiblichen Sexualität besser manifestieren? Freuds Diagnose lautete vermutlich: “Weil er sich nicht von seiner Mutter lösen kann, sie für ihn aber sexuell unverfügbar bleibt, entwickelt er einen Ekel vor ihrer Körperlichkeit und stellvertretend einen Ekel vor weiblicher Sexualität im Allgemeinen, wird also homosexuell; weil aber seine Lust dadurch nur abgelenkt, nicht getilgt ist, giert er weiterhin nach mütterlicher Aufmerksamkeit, die ihn mit jeder Abweisung zugleich frustrierter und abhängiger von ihr werden lässt, was einer vollständigen Ablösung natürlich absolut diametral entgegensteht.” Auf den Film übertragen heißt die Konsequenz: Muttermord. Denn nur, wenn das begehrte Objekt verschwindet, kann es Freiheit geben. Aber die im Titel angelegte Erwartung bleibt unerfüllt. Hubert tötet seine Mutter nicht. Es gibt sie, die brachialen Machtfantasien, auch die sind ästhetisch aufgeladen und eher metaphorisch in oben erwähntes Teller Werfen übersetzt – umgesetzt werden sie nicht.

Im Nachhinein erinnert man eher die positiv besetzten Mutterbilder. Huberts Sammlung von Videobändern: Hingebungsvolle Devotionalien, mütterliche Glorifizierungen. Der pittoresk arrangierte Frühstücksteller mit Gürckchen und Tomätchen und Ananasschnitzchen, mit dem er seine Mutter verwöhnt. Das Super-8-Video vom kleinen Hubert, das so konsequent in blaßen Farben und Strand-Nostalgie schwelgt, wie das auch Lana del Rey nicht besser hinbekommen hätte. Nicht zu vergessen das Fimo-Figürchen (Fimo, das ist diese Knetmasse, die im Backofen dann zu einer Art Ton wird). Es stellt die Mutter dar (gut, dass das noch mal gesagt wird, denn die Ähnlichkeit ist nicht allzu frappierend), eine weinende Mutter, deren Träne am Ende des Films mit großer Geste weggekratzt wird. Und schließlich die (Traum-)Szene, untermalt von geschmackvoller Musik und buntem Herbstlaub, in der Hubert im schwarzen Anzug seiner Mutter – der Braut! im Hochzeitskleid! – nach rennt, die sich ihm, natürlich, entzieht. Da haben wir ihn, den Ödipus-Komplex. Folgerichtig bleibt die Vaterstelle im Film praktisch unbesetzt. Es gibt ihn zwar, den biologischen Erzeuger, aber mehr als scheinheilige Einladungen zum Pizza essen und Video schauen hat er nicht drauf. Am Ende tritt Hubert die Flucht an. Nicht, ohne seine Mutter wissen zu lassen, wo sie ihn findet. In der letzten Szene sitzen die Beiden vor ihrem Strandhaus, die Sonne geht unter, es könnte nicht malerischer sein. Keine männliche Bezugsperson, keine Vaterfigur in Sichtweite. Nur die Mutter und ihr noch immer einverleibtes Kind. Was Freud wohl dazu sagen würde?