Mit schönen Bühnenbildern schöne Sachen machen

Es gibt wohl kaum ein Stück Weltliteratur, das so oft auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt wurde wie William Shakespeares „Romeo und Julia.“ Herausgekommen ist ein kulturübergreifender Code, der für die eine große, leider aussichtslose Liebe steht. Als jüngerer Zuschauer hat man immer die Verfilmung von Buz Luhrmann vor Augen, die Aquariumsszene (Engel und Ritter!), die Hawaiihemden, die Rosenkranz-Schwülstigkeit. Dass es Jette Steckels am Thalia Theater Hamburg gezeigten Inszenierung gelingt, dieser cineastischen Referenz nicht weniger berührende Bilder entgegen zu setzen, beweist schon die Eingangsszene. Wo Luhrmann die Blicke durchs Aquarium schickt, tanzen hier vierzig irre maskierte Cumbia-Tänzer um das junge Paar herum. Plötzlich bricht die Musik ab, die Zeit bleibt stehen.

Zeit hin oder her – auch rund vierhundert Jahre nach ihrer Entstehung ist der eigentliche Wahnsinn der Vorlage noch immer das Alter ihrer Protagonisten: Julia ist noch keine vierzehn Jahre alt, Romeo nur unwesentlich älter. Heute wäre Julia wohl genau jenes Youtube-Girl, als das Birte Schnöink sie gibt. Verschleierter Blick, da schon zu viel gesehen, hin- und hergerissen zwischen Autismus – „Wer stört mein Selbstgespräch?“ – Abgeklärtheit und echtem Begehren. Disney hat auch ihr ein unrealistisches Bild von Liebe vermittelt, schon klar, aber insgeheim wartet sie trotzdem auf den berittenen Prinzen. Zu Beginn könnte der Gegensatz zu Romeo kaum größer sein: sie, ein tapsender, zu Boden fallender Welpe, er einer der stilvoll am Leben leidet. Mirko Kreibich zeigt einen überambitionierten, bei seinem ersten Auftritt erst mal gegen die Wand rennenden Hitzkopf, bisschen drüber, aber auf die charmante Art, so wie damals Robert Stadlober in „Engel und Joe“, dessen Narrativ gar nicht so weit vom Shakespeare-Stoff entfernt ist. Sein Romeo ist einer jener mittlerweile auserzählten Schmerzensmänner ohne Angst vor Gefühlen. Eigentlich der Traum jeder Frau – für Julia, die ihr Begehren nur ex negativo erfährt, das Gegenteil. Erst ruft sie ihn zu sich, dann vergisst sie, warum, worauf Romeo mit Engelsgeduld antwortet: „Und ich stehe ewig. Und Du vergisst ewig. Und ich vergesse, dass da noch eine Welt ist.“

Dass auch wir Zuschauer vergessen, dass da noch eine Welt außerhalb des Theatersaals ist, liegt an den bis ins Detail grandios arrangierten Inszenierungselementen. Die Übersetzung kommt von Frank P. Steckel, dem Vater der Regisseurin. Behutsam hält sie die Balance zwischen Update und Respekt vor dem Original. Über Pauline Hüners Kostüme: Bei Julia kommt dezente Haarkreide zum Einsatz (und anders als viele sieht sie damit nicht wie „My little Pony“ aus). Als sie Romeo kennenlernt, trägt sie ein Kleid mit einem stilisierten Schwan um den Hals – ganz ähnlich dem Modell, mit dem die Sängerin Björk 2001 bei der Oscarverleihung schockte, bloß in schwarz. Am Ende tauscht sie ihre Lederleggins gegen eine Robe, in der jede mit Stilempfinden gesegnete Frau heiraten will (dazu später mehr).

Die eigentliche Sensation ist das Bühnenbild. Florian Lösche hängt einen mehrlagigen, aus hunderten von Glühbirnen bestehenden Lichtervorhang an die Decke. Wer daran stirbt oder es wie Romeo durch Strangulieren versucht, stirbt in Schönheit. Unter dem Vorhang steht ein Flügel. Von dort haucht Anja Plaschg, aka Soap & Skin zarte Hymnen in alle Richtungen. Bekannt ist sie als die Frau, die das Gefühl von kalten Händen, die sich an einer warmen Tasse wärmen, in Noten fasst. In deren schwersten Momenten steht sie Julia bei, weil man zusammen weniger allein ist. Anton Spielmann wiederum, Sänger der Hamburger Diskursmaschinerie 1000 Robota, sorgt für kurze heitere Gitarrenmomente und Zeilen wie dieser: „Wirst Du zur Statur / stell ich Dich in den Flur.“

Abgesehen vom Titelpaar glänzt es auch schauspielerisch bis in die Nebenrollen. Lady Capulet (Oda Thormeyer), zu tief dekolletiert zwischen Uppern und Downern changierend, eine von Rum und R-rotik beflügelte Amme (Karin Neuhäuser), mit der man Lust hat, um die Häuser zu ziehen, und ein Priester (Stephan Bissmeier), der gerne was von seiner „heilsamen Arznei“ abgibt,  zum gemeinsamen einen durchziehen. Dann wäre da noch Julian Greis als Mercutio, ein derber Wiedergänger des Krawallbruders, als den ihn Shakespeare angelegt hat. Angefangen vom orangestichigen, zum Hipsterdutt gebundenen Haar, über das Unterhemd mit Kätzchenaufdruck, bis hin zu seinen Poetry-Slam-Qualitäten („Immer schön ruhig Romeo, sonst reit ich auf Dir Rodeo“) eine Wucht. Die Szene, in der er den Drogentrip verbalisiert, den Benvolio (Pascal Houdus) an seiner Seite performativ durchlebt, das ist schon ganz großes Kino – womit wir wieder bei Luhrmann wären.

In dessen Verfilmung stirbt das Paar im Kerzenschein, Romeo durch das Gift des Paters, Julia durch eine Handfeuerwaffe kleinen Kalibers. Bei Steckel haucht Julia ihr Leben Flöte spielend auf dem Flügel aus – vorläufig, wie der Shakespeare-Kenner weiß, durch einen Trank, der sie achtundvierzig Stunden wie tot wirken lässt. Sie trägt das eingangs beschriebene Kleid, mit einem beleuchteten Reifrock und dem Schriftzug Omnes vulnerant ultima necat – „Alle Stunden verwunden, die letzte tötet.“ Diese Inschrift findet man auf vielen Sonnenuhren, wie der Wikipedia-Kenner weiß, und was anderes sind die Glühbirnen um Julia herum als tausend kleine Sonnen? Als Julia aufwacht mit dem toten Romeo an ihrer Seite, klettert sie eine Strickleiter empor. Kurz wird es dunkel, dann steht der Lichtervorhang in Flammen. Julia fällt aufs Klavier. Ein Knall. Licht aus. Ein Ende wie es lange keines gab im Theater.

Ach ja, der Stream: anstatt im Thalia Theater habe ich mir die Aufführung zuhause am Computer angeschaut. Es wird ja viel diskutiert über solcherart Theatererlebnis – warum nicht, sage ich mir, vom Bett aus lässt es sich genauso gut über die großen Fragen sinnieren wie im Theatersessel. Mit dem Unterschied, dass man wahrscheinlich noch nie so viel von der Darstellermimik mitbekommen hat, jedenfalls nicht auf den billigen Plätzen. Zum Zeitpunkt des Streams litt ich an einer Erkältung und ach, ich litt sehr. Beim Anschauen wurden alle Zimperlein auf einmal ganz klein. Furcht und Mitleid funktioniert also auch auf dem Computerbildschirm. So entfiel immerhin eines von dreihundert verbrauchten Taschentüchern auf die immer noch berührende, immer noch existenziell das Menschsein behandelnde Geschichte von Julia und ihrem Romeo. Für etwas, das so oft auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt wurde, ist das, finde ich, allerhand.

Diese Kritik entstand auf Einladung des Thalia Theaters Hamburg zum “Theatercamp Light” im Rahmen der Social Media Week Hamburg.