Mit dem Kopf im Goldfischglas

Der Goldfisch (Carassius gibelio forma auratus), das von allen Wirbeltieren mit Abstand ansehnlichste Exemplar, hat angeblich eine Aufmerksamkeitsspanne von drei Sekunden. Reiner Pragmatismus, wenn man in einer Glaskugel siecht, die kaum größer ist als man selbst. Bei meiner Freundin J. in Hamburg habe ich einmal mehrere Stunden damit verbracht, das perfekte Instagram-Foto ihres Goldfischs zu schießen. Sein Name war Sashimi (刺身) und er wirkte den Umständen entsprechend zufrieden. Doch ach, wie vermessen, das Glücksempfinden eines stummen Wesens beurteilen zu wollen. Fest steht, dass J. immer für ausreichend Futter sorgt und zwar nicht von der billigsten Sorte. Sie liebt Sashimi so wie sie ihre beiden Kaninchen liebt; abgesehen davon passt dessen Goldfischglas hervorragend in ihre geschmackvoll-norddeutsch (skandinavisch kann jeder) eingerichtete Wohnung. Kürzlich war J. in Tokio, wo sie unter anderem Sashimi aß, also nicht ihr Haustier, sondern jene rohen Fischfiletstücke, die hierzulande fälschlicherweise mit Sushi verwechselt werden. Sashimi heißt übersetzt “durchstochener Körper”, kein Zustand, dem ein liebendes Herrchen seinem Haustier wünschtl. Solche Widersprüche gehören zur Dialektik des Menschseins. Ich behaupte generell: Jede große Liebe ist eine dialektische.

An den lebenden Sashimi musste ich denken, als ich vorgestern eine Pralinenschachtel in der Hand hielt. Auf ihrer Unterseite waren die darin enthaltenen Sorten abgebildet, sicher zehn verschiedene. Den Kopf weit nach hinten gebeugt, studierte ich das Angebot. Andere schauen Netflix, ich starre Süßwaren an. Wie immer trieb mein Perfektionismus absurde Blüten; je länger ich Nuss-Becherli, Macchiato-Stern und Marzipan-Gianduja gegeneinander abwog, desto mehr fürchtete ich eine falsche Entscheidung. Und dann passierte das, was immer in vergleichbaren Situationen passiert: Kaum hatte ich eine Wahl getroffen und die Schachtel umgedreht, vergaß ich, was ich wollte. Welche Braunschattierung zeichnete noch gleich das Nuss-Becherli aus? Zumal die Pralinen gar nicht den Abbildungen auf der Unterseite entsprechend angeordnet waren! Sisyphos rollt seinen Stein den Berghang hinauf, ich drehte die Pralinenschachtel um und selektierte von neuem. So ging das eine ganze Weile. Muss ich mir Sorgen um meine kognitiven Fähigkeiten machen? Habe ich zu viele Nächte im Hamburger Goldfischglas und ähnlichen, das Lang- und Kurzzeitgedächtnis zersetzenden Einrichtungen verbracht? Wenigstens die einzige außer mir im Raum anwesende Person war mit der Problematik vertraut. H. besitzt keine Haustiere, aber eine Sammlung von mechanischen Affen, die Flick-Flack springen. In Hamburg war er noch nie.

Dass Goldfische keinen Magen haben, weiß ich mittlerweile von Wikipedia. Vom Pralinenproblem sind sie demnach nicht betroffen. Dass ihr Gedächtnis nicht wie angenommen drei Sekunden, sondern mindestens drei Monate zurückreicht, von der Zeit. Für die Zubereitung von Sashimi eignen sich über zwanzig verschiedene Fischsorten, der Goldfisch gehört nicht dazu.