“Meat”, Schaubühne, Berlin, 7. April 2014, 17.00 bis 21.00 Uhr

One day we’re not gonna tell all these stories –

Die Luft steht. Von der Zimmerecke blickt Spongebob Schwammkopfs Freund der Seestern als halbschlapper Luftballon auf sie herab. Neben ihm schwebt das Überbleibsel eines Einhorns, scharlachrosa wie ihre Wangen. Seit vielen Stunden glüht ihr Gesicht. Es glühte  beim Anblick der Schwangerenpornos im Jugendzimmer, verständlicherweise. Wer würde sich wohlzufühlen auf einem Bett mit abwaschbarem Latexüberwurf, mit Fragen zur sexuellen Ausrichtung konfrontiert. Immerhin entfachten die semi-ernsten Filmchen (auf Videokassette, nicht Youporn) eine angeregte Diskussion über female porn, eines ihrer theoretischen Steckenpferde. Ihr Gesicht glühte auch im Zimmer von Oma Fuchs, das mit seinen rosa Wänden und den cremefarbenen Spitzengradinen an eine Rentnerenklave in Florida erinnerte. Auf dem TV-Gerät (einen Fernseher stellt man sich anders vor) lief “Lawrence von Arabien”, auf dem Beistelltischchen lagen Fotos von Stiefmama Fuchs und ein Arabisch-Wörterbuch. Oma Fuchs hatte ihr Bettchen mit der “Miami-Vice”-Tagesdecke verlassen, übrig blieben er und sie. Da hatte es angefangen. Sie sprachen über Traurigkeit und Vitamin C-Präparate und über Yoga, dann zeigte sie ihm ihren “herabschauenden Hund.” Danach sah sie aus wie nach einer halben Stunde Workout.

Ohne ihn wäre sie verloren gegangen in diesem Labyrinth aus Gängen, Treppen, Lapdancebars. Als sie sich ein Bier teilen in den “Drei Besen”, fühlt sie das Blut noch stärker gegen ihre Schläfen pochen, jede ihrer Ausreden (der Heuschnupfen, die schlechte Luft) kommt ihr lächerlich vor. Eine Frau setzt sich auf den Platz gegenüber, plappert von Speeddating und männlichem Beuteschema und will ihre Geschichte hören, die Geschichte von ihm und ihr. Sie schauen einander an. “Jäger oder Dieb?”, will sie wissen. “Jäger”, sagt er.

Ihre Zeit ist begrenzt. Sanft drängt sie ihn, ihr neue Orte zu zeigen. Sie gehen einen Gin Tonic trinken im “Lucky Star”, unter Beobachtung einer Frau mit Augenbrauen, die ein Strich sind. Dann führt er sie in das Stundenhotel, das eigentlich geschlossen ist, sie schleichen am Verbotsschild vorbei wie Füchse. Jetzt, in diesem Plüschzimmer, glühen ihre Wangen vom Kitzel des Entdecktwerdens, jetzt spielt es keine Rolle mehr, weil das fahle Rotlicht die hektischen Flecke schluckt. Es geht ihr gut wie in den Stunden zuvor, unwirkliche Stunden wie die Zeit zwischen Schlaf und Traum oder Insomnie – aber jetzt geht es ihr richtig gut, der Gin Tonic hat seinen Dienst getan.

Lediglich ein verblichenes Handtuch trennt sie vom Spätkauf nebenan, von der Präsenz der übergewichtigen Iranerin im Basketballtrikot, vom Gluckern der Kaffeemaschine, vom Sirren des Kühlschranks (fettarme H-Milch, Bier, Discounterbutter). Der Kaffee dort schmeckt abscheulich, es gibt natürlich keine laktosefreie Milch. Wer weiß, wie lange das Handtuch da schon hängt und die Gerüche aus dem roten Zimmer aufbewahrt für kommende Schläfer. Durch den Spalt zwischen Handtuch und Bett flimmert die Neonröhre und ihr Summen mischt sich mit dem Hit des vorvorletzten Jahres: Miezekatze. Eine kleine Ewigkeit lehnen sie so an der Wand, jeder mit seinem Blick beschäftigt, bis er fragt, ob er seine Hand auf die ihre legen darf. Seine Fingernägel sind gerade geschnitten, nicht rund wie die ihren. Stimmen dringen ins Zimmer, gefärbt von fremden Akzenten und Kanakendeutsch (euphemistisch: Kiezsprache), raues Frauenlachen mischt sich mit kokettem Wispern. Manchmal lugt ein Augenpaar durch das Fenster zum Flur.

Vor vielen Jahren hat sie Bangkok gesehen. Hauptsächlich erinnert sie sich an die Hitze, diese subtropische Hitze, ein Brett, gegen das man lief. Auch nachts fielen die Temperaturen nicht unter 37 Grad. Daran denkt sie jetzt, an dieses irre Flackern auf der schweißnassen Haut, das jede Alltäglichkeit mit einem Stigma belegt, Kinderpornos, Designerhandtaschenplagiate, diese Dinge. Dass sie daran jetzt denkt, kommt ihr komisch vor, denn sollte sie jetzt nicht an ihn denken? Er streichelt ihren Arm, dann weiter aufwärts, den Hals, ihre fiebrige Wange. Einmal streift seine Hand ihre Brust. Sie schmiegt sich an ihn, weil sie weiß, dass der vorhin gefasste Vorsatz nicht durchgehalten wird, weil er schmelzen wird in der Hitze dieses schmuddeligen Stundenhotels, das kein Stundenhotel ist, schon gar nicht in Bangkok. Halb aus Kalkül leckt sie sich die Lippen, sein Mund trifft ihre Stirn. Er stellt eine Frage, die schon im Moment des Hörens vergessen ist. Sie flüstert: “Uns gibt es doch eigentlich gar nicht. Das ist doch Theater.” Da nimmt er ihre Hand und legt sie dahin, wo sein Herz klopft. “Ist das nicht echt?” Sie stockt, fühlt das Ziehen im Unterleib, so schön kommt es ihr vor, so unwirklich, dass sie es im Kino als schlimmsten Kitsch abgetan hätte. Aber hier, im Gestus der Gänsefüßchen, unter dem Filter der Ironie, wirkt es wie die einzig mögliche Antwort. Ist Leben ein Textbuch? Sie beugt sich noch ein Stück in seine Richtung, wie könnte es jetzt nicht passieren? Aber es passiert nicht. Ein Blick auf das Handgelenk bringt Gewissheit, ihre Zeit ist um. Behutsam richten sie sich auf, er und sie, wie Winterschläfer, die vor der Hitze des Sommers zurückschrecken. Unter ihnen quietscht das Bett. Lachen dringt unter der Handtuchritze hervor. “Komm”, er nimmt ihre Hand, “wir setzen uns dem Spott aus.” Draußen ist es ein wenig kühler. Draußen ist nicht die Welt, draußen ist ein Achteck aus Nagelstudio, Internetcafé, Thaimassage. Bangkok ist unendlich weit entfernt. Ist sie überhaupt hier gewesen? Waren sie mal eins? Sie geht nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ein paar Tage später stoßt sie auf die Zeichnung eines Fuchses, der eine nackte Frau auf den Schultern trägt. “Räuber oder Jäger?”, schreibt sie darunter. “Weder noch”, antwortet er: “Retter.”