Me, myself and art

Es gibt die Art von Kunst, die man theoretisch zu goutieren weiß. Dieser intellektuelle Aspekt ist richtig und wichtig und die Zeiten, in denen man sich um der reinen Schönheit willen einen Klimt-Akt an die Zimmerwand hängte (IKEA, 69,90 €), Gott sei Dank vorbei. Immer nur Kopfkunst jedoch ist so fad wie immer nur Arthouse-Kino; ab und zu muss es knallen. Die Kunsttheorie spricht da von Affekttheorie, Adorno von Erschütterung. Im Megaflow der täglichen Medienlawinen kann man klar nicht von jedem Kunstwerk erwarten, dass es einem die Seele umkrempelt. Umso schöner, wenn es doch mal passiert. Me, myself und meine Affekte. Was passiert, wenn man dabei ganz allein ist?

Die Frau an der Kasse der Berliner Kunstwerke gibt sich große Mühe, potentielle Besucher zu vergraulen. Heute liefe die Ausstellung aus, sei folglich heillos überfüllt, Wartezeiten von mehreren Stunden einkalkuliert. An solchen letzten Ausstellungstagen greift dasselbe Prinzip wie beim Horten von Lebensmitteln vor zwei aufeinanderfolgenden Feiertagen: Eskalation durch Endlichkeit. Das Konzept von „One on One“ ist, dass man die einzelnen Werke allein betrachtet. Zum Ticket gibt es ein Schild, ähnlich jenen mit der Aufschrift „Do not disturb“  in besseren Hotels (gilt nicht für Hostels), das man an die Klinke der white boxes hängt, in denen sich die Objekte befinden.

Ich fühle mich schon den ganzen Tag über etwas wacklig. Dieser Umstand ist wenigstens teilweise auf das Schlafdefizit der vorherigen Nacht zurück zu führen; auch White Russians könnten eine Rolle spielen. In diesem gesteigert-emotionalen Zustand mache ich bereits im Hauptsaal des Erdgeschosses etwas durch, das einem Quasi-Kollaps sehr nahe kommt. Fahles Licht fällt durch milchig-weiße Fenster auf Robert Kusmirowskis Installation „Lichtung.“ Inmitten des hallenartigen, mit Sand aufgeschütteten Raums ruht ein Erdhügel, umgeben von dürren Bäumen und wüstem Gestrüpp. Zartes Grün kontrastiert mit dem Braun welker Erde, die Stille hat etwas Lauerndes. Vorsichtig gehe ich die Treppen hinunter durch den Sand auf den Hügel zu; schon nach wenigen Schritten sind die Schuhe so staubig, dass man sich schicksalsergeben auf die kommende Schuhputzaktion einstellt. Es gibt natürlich keinen vorgezeichneten Weg, aber vermutlich gehen achtzig Prozent der mitteleuropäischen Besucher im Uhrzeigersinn um den Erdwall herum. Folglich stoßen diese achtzig Prozent zur selben Zeit auf die Skelette an der Rückseite des Dreckhügels. Halb im Boden verscharrt recken sie die knochigen Körperreste zur Decke, Fetzen von Kleidung zwischen Fetzen von Menschenhaar. Ich spüre so etwas wie Panik aufwallen oder, und das ist angesichts der Dimension des Raumes wahrhaft unangebracht, Klaustrophobie. Ganz schnell raus hier, bevor ich an Ort und Stelle niedersinke wie eine Dame im zu eng geschnürten Mieder. Es geht mir so schlecht, dass ich nicht mal auf Idee komme, ein Foto zu machen – und das ist ein nicht uninteressanter Aspekt dieser Ausstellung: Kein übereifriges Personal kann einen davon abhalten, endlich einmal schamlos alles abzufotografieren und abzufilmen. Und mitzunehmen, dazu später mehr.

Ein Stockwerk höher widerfährt uns die erste frustrierende Nicht-Verfügbarkeitserfahrung: Die Schlange vor Jeremy Shaws „Introduction to the memory personality“ ist trotz oder wegen des flotten Stroboskops, das zwischen den Ritzen des Guckkastens hervordringt, ähnlich lang wie vor einem Berliner Club zur besten Ausgehzeit. Weil es keine Gästeliste gibt, gruseln wir uns stattdessen nacheinander in dem sehr filmischen Setting des Künstlerkollektivs Fort. „The Charmer“ ist ein beinahe leerer Raum mit einem Linoleumboden, der in seiner provisorischen Geschmacklosigkeit haargenau so in Millionen bundesdeutscher Küchen zu finden ist, einer zu doll bollernden Heizung und einem Kühlschrank, der das aus besagten Küchen bekannte, stetige Kühlschranksummen von sich gibt. Klar, dass man zielstrebig auf diesen zugeht, dann aber erst mal abwägt: Ja Nein Ja? Mit zitternden Händen beuge ich mich zur Tür hinunter, ziehe am Griff und vor mir breitet sich eine substantielle Leere aus (ein Schicksal, das dieser Kühlschrank mit vielen sogenannten Studentenbuden teilt). Das Gemüsefach: Leer. Ebenso das Eierfach in der Tür. Schließlich bringe ich es sogar fertig, das Eisfach zu öffnen, ebenfalls  leer.  In all meinen Kalkulationen und kühnen Vermutungen den Inhalt dieses in seiner Alltäglichkeit bedrückenden Requisits betreffend (kullernde Gummiaugäpfel, Gammellasagnereste, Sprungfederspinnen aus dem Kaugummiautomat) habe ich vieles bedacht, außer: das Nichts.

Wieder draußen, tickt die Uhr unbarmherzig dem drohenden Ende des Ausstellungstages entgegen und ach – wie könnten wir vergessen, dass es der letzte ist. Ähnlich ergeht es der Schlange vor Günter K.s „Margret.“ Nachdem sich einige Besucher weit über die akzeptable Verweildauer hinaus in dem Raum aufgehalten haben, stürmen plötzlich alle gleichzeitig hinein, ein seltenes Bild von radikaler Okkupation eines Kunstraums. Dabei hätte „Magret“ auch die doppelte Wartezeit gelohnt: So bad-taste-artig, so kleinbürgerlich-pedantisch und gleichzeitig angenehm retrohaft hängen vergilbte Fotos neben sehr sehr sehr grotesken Tagebuchnotizen („15 Uhr schöne Nummer (Rückenlage und Seitenlage) 15 Uhr 15 dann mit Finger bei Margret nochmals gespielt. Geschlafen bis 17 Uhr, dann erneute Spielerei mit Finger und dann längere Nr. in Rückenlage, toll.“) und zur aufgebrauchten Pillenpackung und der Kruste von Margrets Handgelenk gesellen sich Rechnungen vom Abendbrot im Kurhotel. Welch plastisches Beispiel von guilty pleasure! Funktioniert garantiert in jedem Ausstellungskontext. In der solipsistischen Logik von „One on One“ – die ja nur wir ungeduldigen Anarchisten nicht respektieren! – steigert sich das Voyeurhafte noch mal um zweihundert Prozent. Netter Sidekick: Durch ein Guckloch in Anri Salas Nachbarbox können andere Museumsbesucher das Zimmer mit den frivolen Bildchen einsehen. Der Voyeur, der je nachdem lüstern oder peinlich berührt im Nachlass dieser 70er Jahre-Affäre wildert, ist ebenfalls dem fremden Blick ausgesetzt.

In der Schlange vor der nächsten Box, auf halber Strecke leichter Konversation über Handtaschen und abgelegte Freunde, entdecken wir eine versteckte Tür. Noch ein Kunstwerk? Dann und wann verschwindet eine Kunstwerke-Mitarbeiterin in dem Raum dahinter, kommt mit verdächtig ausgebeultem Jutebeutel wieder heraus und geht zur Feldmann-Box. Wir kombinieren: Das geheime Milky Way-Lager! Hans Peter Feldmanns titelgebendes „One on One“ nämlich besteht aus einer Pappbox voller Schokoriegel, unter denen ein Schild sachlich „Nein“ verkündet. Wo sich mir, wohlerzogen wie ich bin, nicht einmal die Frage stellt, ob ich dieses Kunstwerk durch Berührung entweihe, geschweige denn durch Diebstahl beschädige, zaubert meine Begleitung in einem von jener Dame unbeobachteten Moment gleich  zwei Milky Ways hervor, stolz wie das Kind, das eine Hand voll weißer Mäuse stibitzt.

Was kann solch herrliche Formen radikaler Kunstadaption noch toppen? Wagemutig, schaue ich vor Betreten der nächsten Box nicht ins Programmheft, weiß also nicht, dass es sich bei „A holy ghost compares its hooves“ um eine Performance handelt und erschrecke folglich schon im Moment des Betretens des praktisch stockdunklen Raums wie man so sagt zu Tode. Viel zu nah bei der Tür krümmt sich ein Mann über einen Tisch mit einer Miniaturlandschaft aus schlammbraunen Hügeln, ganz ähnlich jener, die meinen Blutdruck zwei Stockwerke weiter unten in gefährliche Höhen trieb. Über den Tisch verstreut liegt ein Bataillon Plastiksoldaten, einige von ihnen sind  rot bemalt. Den nicht-roten Teil bearbeitet der Mann, der mit seinem wilden Bartwuchs sowohl Hermann Nitsch als auch ein entlaufener Irrer sein könnte, hochkonzentriert mit Pinsel und dem Rest roter Farbe. Zwei Augenblicke später, die sich gleichzeitig auf die Dauer einer Ewigkeit ausdehnen und zu einer nicht fassbaren Schrecksekunde schrumpfen, knipst dieser Spielzeugveteran die Lampe vor sich aus. Im selben Moment startet auf der Leinwand an der hinteren Raumseite so etwas wie ein zerstückelter Splattermovie: Kurze Videosequenzen mit toten Tieren, toten Kindern und Kindern, die planen, ihre Eltern zu massakrieren. Die Details entgehen mir, weil ich unaufhörlich den Bärtigen anstarre, weiche Knie bekomme, mein Herz schlägt wie ein Presslufthammer und ich, der Ohnmacht so nah wie noch nie zuvor, sofort und ohne das Ende des Films, der das Ende der Performance markiert, abzuwarten, aus dem Raum stürme, wegstrebend vom Ort dieses namenlosen Horrors, meiner Begleitung entgegen, das Entsetzen von einer in den Augen, die gerade in die wirklich orkushafte Tiefe zeitgenössischer Kunst geblickt hat.

So hat mich die Affekttheorie selten gepackt. Nennen wir es Erschütterung oder existenzielle Erfahrung. Adorno hätte es gewiss gefallen.