Lütt Deern ganz groot

Der Winter wird rot. Rot wie die Ampeln, bei denen man unter gar keinen Umständen die Straßen überqueren darf, rot wie eine Straße, deren Ruf bis nach Süddeutschland reicht und rot wie das Bier mit dem schönsten Logo, das man sich für ein Bier vorstellen kann.

Rosig wirken die Aussichten auf die kommende Jahreszeit erstmal nicht. Mitleid ist ja grundsätzlich in zwei von drei Fällen das Erste, was dem Gegenüber einfällt, wenn man von seinem temporären Aufenthalt in dessen Stadt erzählt. „Schade! – – – – (Bitte einsetzen) ist sooooo schön im Sommer!“ Es folgt in der Regel eine Aufzählung aller Dinge, die (Bitte einsetzen) im Sommer (wahlweise auch im Frühling und, seltener, im Herbst) so lebenswert machen. Zu beachten ist, dass keine/r dieser Orte/ Aktivitäten im Winter, also jetzt, entdeckt werden kann. So war es dereinst in Wien (heimlicher Favorit, der bald endlich, endlich mal ohne Schnee gesehen werden will), so ist es derzeit in Hamburg. Befürchtung Nummer Eins: Der Wind ist hier bestimmt so gar nicht himmlisch, sondern mindestens so fies, schneidend und einem-die-Tränen-in-die-Augen-treibend wie der jenseits der deutschen Grenze. Weit gefehlt! Mehr leichte Briese, denn raue Seeluft – wobei, ein Fauxpas meinerseits, die so genannte “See” sage und schreibe einhundertundvier Kilometer entfernt ist. So unbedarft schlägt das Landei den Bogen vom Hafen zum Meer! Und wo die Möwen fliegen… Nichts für ungut, wieder was gelernt, sagt sich die stets wissensdurstige Autorin und macht sich auf einen Strand- pardon, Stadtspaziergang durch einen Flecken Welt, der auch in der kalten Jahreszeit so Einiges zu bieten hat.

Der Wg-Gott zeigte sich gnädig, als er eine Unterkunft im derzeit begehrtesten Kiez bereithielt. Merke: Dieser Begriff ist hier mit Vorsicht zu gebrauchen, denn anders als zuhause (oder auf Wienerisch, da heißt es bitteschön „Kretzl“) ist er kein Platzhalter für jedes x-beliebige Viertel, sondern steht für the one and only St. Pauli. Wobei das widerum nur einen Steinwurf entfernt ist, ich also mit Kiez nicht ganz falsch liege. Aber bitte: “Sternschanze” klingt sowieso viel schöner und gibt sich bereitwillig her für allerlei mädchenhafte Metaphern (Sterne sammeln auf der Schanze). Als gefühltes Pendant zum Berliner Friedrichshain, zum Münchner Glockenbachviertel und zum Wiener Siebten Bezirk fährt das Schanzenviertel alles auf, was der elaborierte, kultivierte Stadtmensch (der sich nicht zu schade ist, die Kategorie Hipster wenigstens selbstkritisch zu reflektieren) so wünscht. Immer wichtig: Schnucklige Cafés wie das Herr Max, wo hinter stets beschlagenen Scheiben (die mich, nebenbei bemerkt, zu der Frage führen, ob dies an der Raumtemperatur liegt oder aber durch einen ästhetischen Kniff so inszeniert wurde) erlesene Tartes, Tartelettes und Torten serviert werden oder das Don’t tell Mama (der dümmliche Name sei ihm verziehen), dessen Cheesecake haushoch gegen den im heimischen Cupcake gewinnt, immerhin beinah so lecker ist wie der im Kreuzberger Five Elephants und für den man sich auch nicht die Beine in den Bauch stehen muss.

Auch wichtig: Kleine Läden mit genau der richtigen Mischung aus Second Hand, skandinavischem Design und unbezahlbaren Einzelstücken. Gar nicht mal so unbezahlbar ist überraschenderweise die Bullerei, die man dem Namen nach eher in der Hauptstadt der brennenden Autos vermuten würde, bei der es sich aber um das Restaurant des TV-versierten, man ist versucht zu sagen, mediengeilen Küchenzauberer Tim Mälzer handelt. Ein Hauptgericht, das nicht nur schmeckt, sondern auch satt macht und das gefühlt zur Hälfte des Preises, den man kürzlich im derzeit angesagtesten Gourmettempel Berlins bezahlt hat (von dessen anschließender Party man vorzeitig aufbrechen musste, weil der Magen so laut knurrte), stimmt vergnügt. Was die Anbindung der Schanze an die übrige kulinarische Welt angeht, besteht nur insofern Nachholbedarf, als das Schawarma, ein nicht gar so exotisches Produkt, offensichtlich noch nicht in der Hansestadt angekommen ist, wie die Umfrage in einem Videoblog unter Besuchern einer WG Party ergab, dessen Schöpferin umgehend aufbrach zu neuen geschmacklichen Ufern, um dieses sonderbare, geschlechtsneutrale Produkt zu verkosten (– „Der Schawarma? Die Schawarma?“ – „Nur Schawarma.“) – und zwar am Görlitzer Bahnhof in Berlin.

Aber halt, hier geht es ja um Hamburg und bevor ich abschweife, soll der Fokus auf eine weitere hanseatische Besonderheit gelegt werden: Den Fußball. Eine Liebe zum heimatlichen Kickerverein ist auch im übrigen Deutschland in Grundzügen vorhanden, dabei mancherorts in verschiedenen Abstufungen fanatisch, aber unvergleichlich mit allem Bekannten erscheint die Vehemenz, mit der die St.Pauli-Fangemeinde ihren Spielern huldigt. Da kann einem schon mal ein Hund mit passendem Halstüchlein begegnen oder kleine Mitmenschen im Pauli-Strampler, die auf diese Weise zuverlässig zu Nachwuchsfans heran gezogen werden. Mit dem kollektiven Hang zur Raserei ist denn auch der Umstand zu erklären, dass man als temporärer Schanzenbewohner am frühen Samstag Vormittag von einer Kaskade an Feuerwerkskörpern, Sprechgesängen und Schlachtrufen aus dem Schlaf gerissen wird. Um diese Zeit nämlich kommt das zusammen, was zusammen gehört, sprich der Herzblut-Fan kann dann endlich sein Herzblut in Wallung bringen und vollgegenwärtig in Echtzeit seinen Jungs zuschauen beim Gewinnen oder Verlieren, je nachdem. Bemerkenswert allein schon deshalb, weil das Stadion, Schauplatz dieses Kampfes der Giganten, nicht unbedingt in Fußweite liegt.

In Fußweite dagegen liegt der Hamburger Dom, eine Art Wiesn des Nordens, nur dass hier saisonal proletarisiert wird, dreimal jährlich je einen Monat lang. Schwer zu leugnen, dass diese zeitliche Ausdehnung dem Spektakel einen Abbruch tut, macht das Gefühl der begrenzten Verfügbarkeit doch einen Teil des Reizes eines Volksfestes aus, weswegen unter anderem x Millionen Kleinbürger seit Dekaden auf die Theresienwiese pilgern. Wobei die U-20-Klientel sowieso fernab des Autodiskurses einfach nur saufen will. Zwischendurch vielleicht ein bisschen Achterbahn fahren.

Gesoffen wird gottseidank nicht nur dreimal im Jahr. Auch wenn die Hamburger nicht mit ganz so liberalen Öffnungszeiten verwöhnt werden wie das Hauptstadtvolk, findet sich doch eine annehmbare Anzahl so genannter “Spätkäufe” innerhalb des Kiezreviers. Manche davon sind gar Dreh- und Angelpunkt eines Szenevolks, unter dem es gewissenmaßen zum guten Ton gehört, wenigstens die halbe Nacht genau hier, beim Späti ihres Vertrauens zu verbringen.

Als Weinliebhaber hat man nicht das große Los gezogen. Selbst ein so vertrauenswürdig anmutendes Etablissement wie die Klingel 23, eine Art elektronische Tanzbar in Schuhschachtelgröße, kann da nicht dienen, nicht mal mit einem Merlot (Den gibts in der Bernsteinbar – ich rate ab). Stattdessen empfiehlt es sich in der Klingel oder anderswo wenigstens einmalig einen Mexikaner zu bestellen – ein Schnaps, der das St. Pauli-Gefühl in flüssig transportiert (Kiez oral!) und in seiner gruseligen Zusammensetzung alles bisher Bekannte toppt – auf dass man nie wieder in Versuchung komme.

Wer den Kiez in seiner urigsten Form erleben will, dem lege ich einen Besuch im Na und? in der Wohlwillstraße ans Herz. Am Abend meiner Ankunft erzählte mir eine gute Seele, die sich meiner, schwerbeladen und schwitzend, annahm, sprich, mir meinen Koffer ins neue Zuhause trug, ich müsse unbedingt da hin: Spät nachts an die Bar setzen, Bier bestellen, Klappe halten und das Kiezgefühl in seiner ganzen absonderlichen Kauzigkeit auf sich wirken lassen. Gesagt, getan: Tage später finde ich mich wieder an der Theke des Na und?, Seite an Seite mit Nachtgestalten, so schrullig, als wären sie nur mehr Staffage dieses Ortes der unübertroffenen Schrulligkeit. Etwas ratlos sitze ich vor der Karte, deren Schnapsauswahl beachtlich ist, auf der Suche nach einer Alternative. „Wein?“ Die Frau hinter, Tresen, die ganz bestimmt Erna oder Uschi heißt und qua ihrer bloßen Anwesenheit den Kultfaktor noch mal um ein Vielfaches steigert, schaut ganz entgeistert und auch ein bisschen eingeschnappt. „Weiß hamwa nich, rot nur lieblich.“ Lieblicher Wein! Wo gibts denn so was noch? Heimeligkeit hin oder her, dann doch lieber ein Astra. Rotlicht natürlich. Hier, das spürt man, wird Kiezgeschichte geschrieben, Nacht für Nacht. Wobei – und das ist dann auch wieder eine ganz neue Erfahrung – unter der Woche wenig passiert, weil das Wochenende nicht schon am Dienstagnachmittag beginnt. Zumindest weiß ich, was die St. Pauli Fans da machen: Vorschlafen für das nächste Spiel.

Auf dem nach Hause meint man, Salz in der Luft zu schmecken und das Herz auf der Astra Flasche schlagen zu hören. Ersteres ist, wie wir gelernt haben, ein Trugschluss. Höchstens nach Winter riecht es in Hamburg. Und wenn er eine Farbe hat, dann rot! Zweiteres erweist sich als wahr. Das Astra Herz, es schlägt jetzt auch in meiner Brust.