Life’s a bitch but that’s okay

Über die beste Pizza der Stadt lässt sich streiten. Über den asozialsten Service nicht. Den kriegt man völlig demokratisch, nämlich jeder, im “Il Ritrovo” und seinen Filialen “Il Casolare” und “Il Due Forni.” Als ich vor einigen Jahren nach Berlin zog, galten alle drei noch als Geheimtip oder zumindest als extravagant, ein Charakteristikum, mit dem man zugezogene Provinzler garantiert kriegt. Die Wände, so munkelte man, seien mit Edding vollgekritzelt, die Tischdecken aus Papier, die Speisekarte ausschließlich auf Italienisch. Keine Pasta. Dafür zwischen Vorspeise und Hauptgang eine Portion Subversion. “Il Ritrovo”, auch bekannt als: Der Punkitaliener! Das stimmt so nicht. Keine Ahnung, was Leute mit dem Begriff Punk assoziieren, aber die Punks, die ich kenne, sind ausgesprochen nette Leute. Anders das Personal des “Il Ritrovo.” Es beginnt damit, dass eine telefonische Reservierung nur mit Widerwillen vonstatten geht, besser man kommt und bringt Wartezeit mit. Wer sitzt, kriegt besagte monolinguistische Speisekarte hingeknallt und wer Schwierigkeiten beim Übersetzen hat, konsultiert besser Google Translator als einen der Kellner. Weinberatung? Geschenkt. Der Hauswein ist untrinkbar. Kaum hat einer am Tisch den letzten Bissen gegessen, fliegt die Rechnung im Vorübergehen herbei. Sitzen bleiben, weiterreden, vielleicht gar noch etwas trinken? Ausgeschlossen. Egal, wie groß die Rechnung ist, egal, wie großzügig das Trinkgeld ausfällt: Mit der Autorität eines Mafiabosses bündelt der Kellner die Scheine und dann heißt es Tisch räumen, pronto pronto! Über die Jahre ergänzten Erfahrungen aus zweiter und dritter Hand die eigenen: Vegetarier, die Salsiccia auf ihrer Pizza finden und angeschnauzt werden, wenn sie das Missverständnis erwähnen, vertauschte Bestellungen, die laut Kellner einzig auf die Boshaftigkeit des Gastes zurückzuführen sind – alles schon gehört. Ein Freund berichtete, die Antwort auf seine Frage, ob er hier auch nur ein Bier trinken könne, sei “Verpiss Dich” gewesen. Kurzum: Das “Il Ritrovo” ist ein Paradebeispiel für den seltsamen Begriff “Servicewüste Deutschland.” Und was sagen die stets kritischen Qype-Texter dazu? “Ich mag die typisch italienische, nicht aufgesetzte Atmosphäre. Die Bedienungen sind zwar allesamt eher nüchtern als freundlich, aber irgendwie mag ich auch das. Das gehört wohl auch so zur Mentalität oder? Spaß an der Arbeit haben sie glaub ich trotzdem, denn sie schreien sich über die Tische hinweg immer auf italienisch Sachen zu und lachen laut. Ich mag dieses bunte Treiben.” Ich mag es, als Kunde nicht das Gefühl zu haben, eine personifizierte Beleidigung für den Kellner zu sein.

Sind wir alle ein bisschen “Fifty Shades of grey” und wollen von Zeit zu Zeit erniedrigt werden? Befriedigen Orte wie das “Il Ritrovo” den geheimen Wunsch nach ein wenig Masochismus? Nicht anders ist der Umstand zu erklären, dass besonders ungern ausgeführte Dienstleistungen nicht nur trotzdem in Anspruch genommen werden, sondern sogar gerade deswegen. Asoziales Verhalten den Kunden gegenüber ist mittlerweile ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich Kneipen, Restaurants und Clubs abheben. Erinnert sich noch jemand an den Aufschrei wegen eines Bollers für Kinderwägen in einem Berliner Coffeeshop, der verhindern soll, dass Kinderlärm die Coolness trübt? Den hohen Preis der Coolness zahlen auch Besucher der “Butcher’s Bar” in der Berliner Torstraße. Viele Bars verzichten auf Schilder, diese jedoch gibt sich besonders klandestin, denn um hinein zu kommen, muss man zunächst eine Currywurstbude durchqueren. Ist diese Hürde genommen, tritt man in eine Telefonzelle, deren Wählscheibe als Klingel fungiert. Einen Moment später taucht in einem Schlitz das böse Gesicht eines Kerls auf, der sehr undeutlich murmelt, was man hier zu klingeln habe. Undeutlich, weil er fortwährend auf einem Zahnstocher kaut (ein Redneck?). Ehrfürchtig wie das Kind vorm Nikolaus haucht man den Namen des Etablissements, nur um im wahrsten Wortsinn die Tür vor der Nase zugeschlagen zu kriegen. Klopfet zwei weitere Male, so wird Euch aufgetan! Mit gesenktem Blick folgt man dem Zahnstochergockel in einen zugegeben beeindruckenden Raum, gekachelt und schummrig. Hinter dem Tresen steht einer mit Fliege, der lächelt, nur leider kümmert er sich um die Cocktails, nicht die Gäste. Man nimmt Platz. Man erkundigt sich nach der Karte. “Gibts nicht”, bellt der Zahnstochergockel. Was die Dame gerne trinke? “White Russian”, sagt die Dame, woraufhin der Zahnstochergockel bellt, “haben wir nicht” und direkt aufzählt, was man noch nicht hat, Caipirinha nämlich, Zombie, Hugo. “ich bring Dir was, das wird Dir schon schmecken.” Wenig später steht ein fingerhutkleines Glas vor einem, dessen Inhalt nach Haselnuss, Zuckerrohr und Kaffeelikör schmeckt. Lecker, keine Frage. Derart versöhnlich gestimmt, ist man bereit, großzügig über das Preis-Leistungsverhältnis hinwegzusehen, bis man bemerkt, wie der Nachbartisch mit ausladender Geste jene Cocktailkarte entgegen nimmt, die bis eben angeblich nicht existierte.

Offenbar besteht des nachts eine erhöhte Bereitschaft zur Selbstkasteiung als, sagen wir, morgens beim Brötchenkauf (Schrippen! SCHRIPPEN!). Das gilt natürlich ganz besonders für die Türpolitik in Berliner Clubs. In der ehemaligen Bar 25 etwa mussten sich wartende Gäste den absurdesten Prozeduren unterziehen, manchmal waren es regelrechte Competitions, an denen Heidi Klum ihre helle Freude hätte. Je nach Laune würfelten die Türsteher um den Einlass, stellten Freundschaften auf die Probe (“Du darfst, der nicht”) oder ließen ihren infantilen Trieben freien Lauf, indem sie sich eine Handpuppe überzogen und zu den Wartenden sagten: “Sprich doch mit dem Krokodil!” Das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen jedoch bringt das Berghain mit seiner angeblich härtesten Tür der Welt (diese Superlative!). Touristen aus der ganzen Welt bangen dort Wochenende für Wochenende, ob sie Einlass finden und wenn sie dann endlich ganz ganz vorne in der Schlange stehen – je nach Tageszeit kann das mehrere Stunden dauern – wissen sie vor lauter Ehrfurcht nicht, in welchem Winkel sie jetzt das Bier ansetzen sollen (jede Bewegung kann die falsche sein!). So viele Fragen: In welcher Personenkonstellation gibt man sich bloß zu erkennen (leider wahr: Frauen haben es leichter)? Taugt das stundenlang ausgetüftelte Outfit, trifft es dir richtige Balance aus beiläufig und gewagt? Wie die Tatsache überspielen, dass man kein local ist? Und warum um alles in der Welt tut man sich den ganzen Stress an?

Vor nicht allzu langer Zeit stand ich an eben dieser Stelle, ganz vorne an der Tür, nach einer kleinen Ewigkeit, es war schon wieder hell. Meine Begleitung und ich waren frohen Mutes. Es endete dramatisch. Was ist passiert? Im entscheidenden Moment werden wir wohl einen unverzeihbaren Fehler begangen haben; vielleicht lag es aber auch nur an unseren Schuhen. Jedenfalls wanderte der Blick des Türstehers (Sven Marquardt war es nicht) an uns hinauf und hinab und wieder hinauf. “Ihr Beiden?” Nicken. Jetzt neutral schauen! Jetzt unbedingt Szenecredibilty beweisen! “Ihr gefallt mir heute nicht.” Wir gefallen ihm heute nicht? Man kann einem solchen Satz mit Trotzigkeit begegnen oder gespieltem Gleichmut. Man kann sich denken “Perla vor die Säue” und sich vornehmen, diesen Zirkus in Zukunft nicht mehr mitzumachen. Letzlich bleibt einem aber nichts anderes übrig, als erhobenen Hauptes den walk of shame anzutreten, vorbei an den Wartenden, den Hähmischen, zurück in Richtung Heimat. Wissen wir gebeutelten, vom Nachtleben aufs traurigste geknüppelten Kreaturen doch um die Nichtigkeit unserer Existenz. Ebenso wissen wir, dass wir wiederkommen werden, wenn nicht nächstes Wochenende, dann übernächstes. Wahrscheinlich ist uns nicht zu helfen.