Liebe in Zeiten des Datenflows

Joachim Bessings Roman “Untitled” fasst sich so zusammen: Boy meets Girl. Immer eine schöne Sache; problematisch ist, dass der Boy und das Girl eher in der Lebensmitte als am Anfang stehen, kurzum: Es ist zu spät. Sie, Julia, ist bereits verheiratet. Er, J. (Vorsicht vor der Biografisierung, aber: Joachim?), ist zu Beginn der Erzählung mit einer gewissen Senta Kutschermann liiert. Es ist eine jener Zwecksymbiosen, die ihre Hartnäckigkeit aus der Tatsache beziehen, dass man mit fortschreitendem Alter nicht mehr allein sein möchte und es immer unbequemer wird, auf Familienfeiern ohne plus eins zu erscheinen. Gelegentlich unterbrechen Highlights wie Altbau-Stehparties bei befreundeten Galeristenpärchen Senta und J.’s Nebeneinanderherleben. Dann knallt es: J. begegnet Julia. Vom ersten Moment an ist er ihr verfallen, die Zahnpasta entfernt er am ersten Abend “küssenderweise” von ihrem Mund. Kurz darauf entfernt der Erzähler Senta Kustermann geräuschlos aus seinem Leben und sie ihn im Gegenzug aus der gemeinsamen Wohnung, weswegen er sich in einer Pension mit dem herrlich antiquiierten Namen “Goldener Reiter” einmietet (Eine Pension in Berlin Mitte?), dessen Besitzer zu Bett und Frühstück abendliche Saufexzesse und die menschliche Wärme mitliefert. Derweil wandelt sich J.’s Liebe zu einer Krankheit. Wenn er überhaupt etwas essen kann, dann nur Julias Lieblingsessen, “odd Spaghetti with Redsauce.” Wo immer er auf den Buchstaben J trifft, macht er ein Foto, mit dem Ziel, ein allumfassendes Archiv ihrer Initialen anzulegen. Jedes neue Kleidungsstück, das er sich zulegt, kauft er in doppelter Ausführung, eines davon für Julia. Einmal druckt er ihren gesamten, mehrere tausend Seiten umfassenden elektronischen Schriftverkehr aus. Wenn er sich vor einem Flugzeugabsturz fürchtet, dann nur, weil “die Furcht, sterben zu müssen, gründet darin: Julia nie mehr wiedersehen zu dürfen.”

Als Gegenwartsmensch setzt der Erzähler seine Persönlichkeit in eins mit den Dingen, die ihn umgeben. Vom Maßanzug, den er trägt, über die Drogen, die er konsumiert, alles dient der Konturierung des eigenen Ichs. Instagramm, Email und Skype sind Konstanten in der Beziehung von J&J, die keine ist, jedenfalls nicht in konventionellen Parametern (und genau deswegen doch wieder exemplarisch für ein Lebensmodell, das in den hippen Bezirken der Metropolen wohnt). Die zigtausend Titel aus der iTunes Mediathek, welche die beiden zwecks Versicherung des identischen Musikgeschmacks austauschen, füllen einen digitalen Datenträger. Allgegenwärtig ist das iPhone als Verlängerung der eigenen Identität in die Sphäre des Besitzes hinein, in der Serie so lebensnotwendig, wie als Einzelobjekt austauschbar (mit wunderbarer Nonchalance werden zertretene Displays hingenommen). Selbst Julia mit ihrer anstrengenden “Besitz-macht-unfrei”-Attitüde kann nicht darauf verzichten. In der Ineinssetzung von Markenprodukt und Selbst hat der Kapitalismus ganze Arbeit geleistet. So beiläufig diese Mechanismen greifen (beim Erzähler nicht anders als bei vielen Lesern), so selbstbewusst muss ein zeitgenössischer Roman damit umgehen.

Dank des sich heiß laufenden Stream of Consciousness, der weite Teile des Buchs bestimmt, kennt der Leser den Gefühlshaushalt des Erzählers bald in und auswendig. Wer aber ist diese Julia? In mir weckt sie eine regelrechte Aversion. Klar, dass ich mich mit dem Protagonisten solidarisiere, dieser tragischen Figur! Schütteln will ich ihn, zur Besinnung rufen, wie ich es bei einem guten Freund täte. Vorsichtig natürlich, nicht mit der Tür ins Haus fallend, eher nach dem Motto: “Vielleicht steht sie nicht so auf Dich…” Denn Julia ist ein “Gehirntier” und genussfeindlich noch dazu, hat offenbar weder Freude an gutem Essen, noch an schönen Orten (immer will sie da sein, wo sie nicht ist), an Besitz am allerwenigsten. Immerhin trägt sie das titelgebende “Untitled”, ein Parfum von Martin Margiela, das der Erzähler ihr schenkt. Julia ist eine Schnepfenfrau, geheimnisvoll zwar, aber auf eine enervierend präteniöse Art, eine Spielchen-Spielerin, die stetig lockt, um sich wieder zu entziehen, so mustergültig, wie das leider immer noch antiquiierte Geschlechtermodelle predigen. Nicht nur lässt sie sich nicht scheiden, sondern folgt ihrem bärigen Frederick nach Australien, von wo aus sie dem Zurückgebliebenen J. Handybotschaften schickt wie diese: “My Dear, ich möchte so furchtbar gern erfahren, wie es dir geht: J”

Dazu passt, dass Julia sich dem Erzähler offenbar niemals ganz hingibt, wie man so schön sagt – zu mehr als heftigen Küssen kommt es nicht. Allein deswegen ist dieses Buch eine Ungeheuerlichkeit. Was anfangen mit einer Liebe, die derart stark ins Reine überhöht wird, in eine Verbindung zwischen Brüderlein und Schwesterlein, dass ihr das Reale abhanden kommt? Man erwischt sich dabei, dass man den beiden wünscht, sie würden einfach mal, pardon, vögeln, um ihre Idealvorstellung mit der Realität abzugleichen.

Wie lässt sich eine derart transzendierende Liebesgeschichte zum unvermeidlichen Ende hinbiegen? Julia, wenig überraschend, hält sich alle Hintertürchen offen. Der Erzähler mietet sich nach ihrem Umzug nach Australien im mittelalterlichen Anwesen eines Freundes in Südfrankreich ein und verbringt seine Tage von nun an malend im Burgturm. Dieses Eremitendasein denkt Bessing so konsequent wie absurd zu Ende. J. malt nicht irgendetwas, sondern seine erste Begegnung mit Julia vor dem Bücherregal eines befreundeten Galeristen, in pedantischer Kleinstarbeit und lächerlich detailversessen (er bittet den Besitzer des Bücherregals um ein Werkverzeichnis seiner Bibliothek, um die Buchrücken korrekt beschriften zu können). Als letztes Detail fügt er seinem Werk, das ein Lebenswerk ist und Vermächtnis und Ikone und Reliquie zugleich, Julias Ehering hinzu, “den sichtbaren Teil eines schmalen Reifs.”

So hoffnungslos verkitscht “Untitled” ist,  so sehr das Buch zum Kopfschütteln verleitet… (weil die Liebe zur Plage wird, weil der Protagonist sich bereits nach wenigen Buchseiten selbst abhanden kommt, weil man bis zum Schluss keine Entscheidung treffen kann, ob man selbst sich ein solches Erleben und Erbeben wünscht oder nicht – was in Ordnung geht, weil man diese Entscheidung wahrscheinlich nicht selbst zu treffen hat)… so sehr einem der Sound der Erzählung in Teilen die Nerven raubt, bis man kurz darauf wieder glücklich mitsummt (weil der Erzähler einen hervorragenden Musikgeschmack hat und den Leser daran teilhaben lässt, etwa mit der abschließenden Liste der sechsundvierzig bedeutendsten Songs für J&J, darunter Nicolas Jaar, Modeselektor, Nirvana, The Strokes, denn: “Unser Ideal einer Diskothek beanspruchte (…) des verschärftesten Willens zur Reduktion trotzend noch immer 46 Songs*. Oder wie Julia stets zu sagen pflegte: Musik war das Allerwichtigste.”)… so erschüttert lässt “Untitled” den durch Vorabendserien und Foto-Lovestories sozialisierten Leser zurück. Die Liebe in Zeiten des Datenflows, vielleicht gibt es sie. Ein Gewinn.