Liebe Christiane, ich hab auch immer Zeit

Wieder mal ein Tag verschenkt! So formulierte es dereinst eine Band, die das non-kulturkonforme – das Böse! – schon im Namen trug und die ich hier gar nicht zitieren mag, weil mir selbst diese eine Zeile auswendig zu können wirklich peinlich ist. Wobei das Lied sowieso Melancholie und Lebensvedrossenheit und Dorfjugendtristesse verbreitet – und in diesem Blogpost soll es doch endlich wieder einmal lustig zugehen…!

So wie bei Christiane Rösinger. Geboren in Rastatt, aufgewachsen “im badischen Hügelsheim”, heute eine Art Schutzheilige der aus-dem-Süden-nach-Berlin-Gezogenen, da lebender Beweis, dass man nach so und so viel Jahren auch als Nicht-Berliner eine Hauptstadt-Coolness in sein Umfeld aspiriert, als wäre man nicht im Kreiskrankenhaus Sigmaringen, sondern in der Neuköllner Urbanklinik zur Welt gekommen. Rösinger ist in erster Linie Kreuzberger Lokalpatriotin Schrägstrich Lebefrau, das heißt sie schreibt, macht Musik und diverse andere Projekte; hauptsächlich, glaube ich, schreibt sie. Während mir ihre musikalischen Dinger zu diskurslastig sind, liebe, ich wiederhole: Liebe ich ihre Essays, ganz besonders jenen mit dem schmissigen Titel Das Leben der Lo-Fi-Boheme, erschienen 2008 in Rösingers erstem Buch Das schöne Leben. Bei dem Neologismus “Lo-Fi-Boheme” dachte ich im ersten Moment an Sascha Lobo und seine “Zentrale Intelligenz Agentur”, aber halt, das war die “Digitale Boheme”. Das mit dem Lo-Fi hat sich Frau Rösinger ausgedacht. Deren Erwerbstätigkeit setzt sich ihr zufolge zusammen aus  “50% künstlerischer, also unbezahlter Arbeit, (…) 25% freiberuflicher, kaum vergüteter Tätigkeit bei einer kulturellen Institution und, um den Anschluss ans wahre Leben nicht zu verlieren, aus 25% tatsächlich bezahlter Arbeit, den sogenannten Brotjobs.” Da reihe ich mich als Masterstudentin der Theaterwissenschaft doch gleich mit ein, glücklich meine Selbstreflexion wieder ein ganzes Stück voran getrieben zu haben. Mit dem Versuch, eine Struktur in den praktisch strukturlosen Alltag zu bringen, geht es mir nämlich wie Christiane: “Die Tage ziehen sich. Lange schlafen, ewig Zeitung lesen, immer wieder Kaffee trinken, am Schreibtisch sitzen, in der Wohnung umhergehen, (…) und endloses Sitzen in den immergleichen Cafés.” Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Hat man sich eben erst freiberuflerisch-kreativ neue Betätigungsfelder ausgedacht, bricht das ganze System schon wieder in sich zusammen, tun sich neue Zeitfenster auf, wo man eben noch eine liegen gebliebene Aktivität wähnte.

Was also anfangen mit der Freiheit eines geisteswissenschaftlichen, noch dazu von elterlicher Seite sanktioniertem Studium? SPIEGEL online lesen, die Tagesschau vom vorhergehenden Abend schauen (weil man um 20.15 Uhr eh nie daheim ist), seinen Wahrnehmungsbegriff anhand ausgewählter philosophischer Grundlagentexte überprüfen, Filmkritiken lesen, Filmkritiken vergleichen, gegeneinander abwägen und schließlich: Filme schauen; sich auf die Suche nach dem besten Cheesecake Berlins begeben, dem glamourösesten Späti, der hippsten Eisdiele und der interessantesten Eissorte und, wenn das Geld reicht, sich pausenlos durch neue Frühstückscafés, Brunchbuffets, Falafelläden, Weinstuben, Absinthbars durchprobieren. Letzteres natürlich nach Sonnenuntergang, womit wir beim schönsten Aspekt wären, nämlich den nicht inexistenten Gründen morgens früh aufzustehen. Um noch einmal Christiane zu zitieren: “Die Nächte ein ewiges Ins-Kino-Gehen, Was-Trinken-Gehen, Auf-Konzerte-Gehen, In-Clubs-Gehen, Auf-Partys-Gehen, Nach-Hause-Gehen.” Auch bemerkt sie sehr richtig, dass das Gesetz der zwanghaften Wochenendegestaltung bei Anhängern der Lo-Fi-Boheme ins Leere greift, denn es ist ja jeden Tag Feier-Tag – Feier-Tag mit Bindestrich, viel besser als Feiertag ohne, denn da haben die Geschäfte zu.

Leider sind viele der bis hierhin aufgezählten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Geld Ausgeben verbunden und das stellt uns Lo-Fier vor ein ernsthaftes Problem: Dass es nicht an Ideen zum Konsumieren mangelt, wohl aber an den Mitteln. Deswegen hier noch zwei weitere Möglichkeiten, soll heißen, Überlebensstrategien, die freie Zeit zu verbummeln (auch, um dem gefürchteten Bore-out, dem kleinen, hundsgemeinen Bruder des Burn-outs vorzubeugen):

Punkt 1 – Ämter, Ärzte und Behörden: Wer hätte gedacht, dass das Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg eigens eine Sprechstunde für “Berufstätige, Schüler, Studenten” anbietet, Donnerstag von 13.30 Uhr bis 17.30 Uhr? Was im Umkehrschluss bedeutet, dass all jene, die nicht in die Kategorie “Berufstätige, Schüler, Studenten” fallen, außerhalb dieser kurzen Zeitspanne immer willkommen sind? Mir ist zwar nicht ganz klar, warum das Gesundheitsamt Studenten und Berufstätige so freimütig in einen Topf wirft, bin ich doch selbst Studentin und trotzdem notorisch unausgelastet, darauf basiert doch der ganze Text hier! Sei es drum, in der Praxis bedeuten solch bürokratische Paradoxe, dass man sich den Aufenthaltsraum nicht mit dem Pöbel teilen, nicht beim Ziehen der Wartenummer an der Schlechtigkeit des deutschen Beamtenapparats verzweifeln muss. Ganz gleich verhält es sich mit Arztterminen. Oft stelle ich mir das verzückte Gesicht der Sprechstundenhilfe vor, wenn ich auf ihre Frage “vormittags oder nachmittags?” gönnerhaft in den Hörer flöte: “Ach, wie es Ihnen passt!” Und erst die würdevolle Ruhe des fast leeren Wartezimmers, nur selten unterbrochen vom einzigen außer mir anwesenden Mitpatienten, der sich sachte durch das üppige Zeitschriftensortiment blättert. Selbstverständlich kann man das aktuelle SZ-Magazin lesen und nicht das von letzter Woche! Unbeobachtet gibt man sich anschließend der lustvollen Lektüre der Bunten, Glamour und Essen & Trinken hin, ohne Schamgefühl, als freier Mensch, als mündiger Bürger (mit der Auswahl der Magazine im Wartezimmer steht und fällt natürlich die Qualität eines Arztes, das wissen alle Lo-Foier, aber das ist ein anderes Thema und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden).

Punkt 2 – Was koche ich morgen? Immer wieder aufs Neue staune ich über die mannigfaltigen Möglichkeiten der Zeitverschwendung, die einem Essen bietet. Das fängt an bei ausgedehnten Supermarktbesuchen, gerne auch verschiedener Ketten, denn schließlich hat nur KAISERS die richtige Chorizzo, gibt es nur im Bioladen den delikaten Mandel-Nuss-Tofu und nur bei ALDI das Rosmarin-Knobluach-Forcaccia. Wer schon zu vertraut ist mit dem Sortiment der bekannten Supermärkte (ein Zeichen hierfür könnte sein, dass man die Angebote in den Anzeigeblättchen vergleicht), dem kann ich nur empfehlen, sich auf die saisonalen Herausforderungen der heimischen (oder meinetwegen importierten) Lebensmittel einzulassen. Glücklicherweise findet in Berlin an jedem Tag der Woche irgendwo ein Wochenmarkt statt. Daran knüpft sich natürlich die Frage: Was mache ich mit Chicorée? Mit Grünkohl? Mit Löwenzahn? Abhilfe schafft mir neuerdings Niki Segnits “Geschmacksthesaurus”, mehr Lexikon als Kochbuch, das unkonventionelle Zutatenkombinationen vorstellt und so eine unerschöpflicher Quelle kulinarischer Experimente darstellt. So kam es, dass ich vor einigen Tage über mich selbst staunte, wie ich mit roter Küchenschürze, Rhabarberkompott-einkochend und Vakuumverschlüsse-produzierend in der Küche werkelte wie ein kleines WG-Heinzelmännchen oder eine 50er Jahre-Vorzeigemama.

Und am Ende des Tages erntet man die Früchte seiner Arbeit: Zig Einweckgläser voll Rhabarber-Erdbeerkompott (Christiane sagt hierzu: “Während vor zwei Jahrzehnten noch das Gespenst der entfremdeten Arbeit herumgeisterte (…), träumt der Lo-Fi-Bohemien heute hin und wieder von einer relativ stumpfen, vielleicht leicht ordnenden oder überwachenden Tätigkeit als Erholung von der ständigen Zwangskreativität.”). Tatsächlich kann hier von Zeit verschenken gar keine Rede sein. Weil wir, das heißt Christiane, ich und all die anderen Lo-Fi-Bohemiens ja nicht nichts machen! Kurz vor dem Bore-out habe ich begonnen, auch Tätigkeiten, die nicht in das strikte Tauschsystem fallen (Arbeit gegen Geld), als produktiv anzuerkennen. Lang lebe der verschenkte Tag! Was mir aber mindestens genauso wichtig scheint: Lo-Fi-Menschen sind sehr angenehme Zeitgenossen, möglicherweise sogar die besseren Freunde. Denn so umfassend informiert ich über die aktuelle Tagespolitik im In- und Ausland und die Feuilletons sämtlicher ernstzunehmender deutschssprachiger Tageszeitungen bin, so genau beobachte ich die Aktivitäten meiner Freunde auf Facebook, feinfühlig und empathisch nehme ich an ihrem Leben teil, Abgesehen davon, dass ich stets neue lokale Entdeckungen auffahren kann, lohnende Bars, Cafés, Restaurants, über die ich auf einem meiner ausgedehnten Spaziergänge gestolpert bin (was dazu führt, dass ich mittlerweile als eine Art wandelnder Gastronomieführer oft um Rat gefragt werde); abgesehen davon, dass ich immer gerne private Literaturlisten herausgebe oder Tips für Ausstellungen, Theater (vor allem Theater) und den ganzen hauptstädtischen Kulturappara – abgesehen davon lohnt es sich auch sonst total, mit mir befreundet zu sein. Weil es bestimmt beim nächsten Besuch im Hause Perla wieder Kuchen oder Waffeln oder Frappé gibt. Weil ich nicht bloß einer Deiner 389 Facebookfreunde bin, sondern auch für einen analogen Kaffee zu haben. Und weil ich immer Zeit habe.