Ist München das alte Berlin das neue München?

Oder das geilste Land der Welt? Das jedenfalls behauptet ein Aufkleber an der Zapfsäule des Jennerwein, einer Art Schwabinger Institution. Für alle, die nicht wissen, wo auf ihrer mentalen Landkarte sie jetzt anfangen müssen zu suchen: Wir, also die Rezensentin, befinden uns in der Landeshauptstadt des Bayerischen Freistaates. Der Grund des Ortswechsels soll hier nicht weiter ins Gewicht fallen, es ist allerdings zu früh für die Wiesn, ihrerseits auch eine Institution – freie Bahn für alle Hendl Hasser und Traditionsverachter. Dafür ist es zu früh, heute also das Jennerwein: Gerüchten zufolge war dies damals, als die bayerische Metropole wildere Zeiten gesehen hat, eine Hochburg der linken Avantgarde, Bohème wasauchimmer. Im Hinterzimmer sollen Ehen geschlossen worden sein (wenn auch nur für eine Nacht) und auch im Jahr 2011 geht es nach Beginn der Sperrstunde (die – wo gibts denn sowas noch? – vom Barkeeper lautstark mit dem vielsagenden Satz “Letzte Runde” verkündet wird) erst richtig los: Dann nämlich wird die Tür abgeschlossen, die Fenster verbarrikadiert und die “letzte Runde” multipliziert sich auf sagenhafte Weise ins Unendliche. Unerklärlicherweise finden auch neue Gäste den Weg an die Theke (Die Tür ist doch zu? Ist das Magie?), man kommt ins Gespräch, hört nostalgische Schwabinger Märchen, vorgetragen von bierseeligen Mittrinkern und das unschöne Klischee vom kauzigen Münchner ist schon fast vergessen. Über das Geschehen wacht das Bild eines jungen Mädchens im Schneidersitz, das Kinn auf die Hände gestützt, das nicht wie vermutet Uschi Obermaier nachempfunden ist, sondern der jungen Senta Berger (schade um die schöne Berlin Parallele zum Muschi Obermaier!). Die Musik sträubt sich damals wie heute gegen die elektronsiche Übermacht. Die hat nämlich längst nicht nur Berlin fest im Griff, sondern auch beinahe alle Clubs in Süddeutschland (die Guten wenigstens).

Wobei die Grenze zwischen Club und Bar hier oftmals eine eher vage ist. Wie war das noch mit der Blumenbar? Abgesehen vom zauberhaften Namen gleicht das Logo dieses feinen Ortes im Glockenbachviertel (für den Fremdling so etwas wie das Münchner Kreuzberg) haargenau dem jenes Verlages, der seinen Sitz in Berlin hat. Im Erdgeschoss befindet sich denn auch eine Bar im klassischen Sinn: Mit guten Drinks zu leider völlig abgehobenen Preisen (was besonders schmerzt, wenn man sich gut eingerichtet hat auf den sehr studentenfreundlichen Lebenshaltungskosten in der Hauptstadt), Vintagemöbeln, schummrigem Licht und schönen Gästen – soweit nichts Neues. Im Keller stolpert man dann urplötzlich auf eine Tanzfläche von winzigen Ausmaßen zwar, aber dafür von unzähligen, zur Hälfte geschwärzten Glühbirnen illuminiert. Unter so einem Himmel tanzt es sich besonders luftig, das ist hier nicht anders als im Berliner Watergate, wobei der ranzige Charme des Auslaufmodells “60 Watt Birne” mehr überzeugt als die Highttech LEDs des Berliner Pendants. Das Konzept Selbstläufer Techno funktioniert genauso gut wie allüberall sonst (siehe oben), nur, dass hier die gewöhnungsbedürftige Praxis herrscht, dass gelegentlich drei oder mehr Leute gleichzeitig hinter dem Plattenteller stehen; zeitweise lässt sich mit Schrecken beobachten, wie kleine Rangeleien darüber entscheiden, wessen Track als nächstes an der Reihe ist. Viele Köche verderben den Brei – nichtsdestotrotz gehört die musikalische Auslese der Blumenbar zu den leckersten Potpourris der bayerischen Hauptstadt, versehen mit dem Label “Geheimtip”.

Weit reicht dagegen der Mythos der Roten Sonne; weit genug, dass man selbst in Berlin wenigstens davon gehört hat. Ehrensache, sagt sich die Hauptstädterin, dass es dessen Wahrheitsgehalt zu prüfen gilt – und findet sich ernüchtert wieder inmitten eines unspektakulären, so gar nicht alternativen Publikums, zudem umgeben von ziemlich gewöhnlichen Klängen und einer lieblos zusammengewürfelten Inneneinrichtung. Schade, sagt sich die Hauptstädterin – und noch viel mehr schade, dass die Begleitung nicht zum erneuten Eintritt-Bezahlen im Harry Klein zu haben ist (die Gästelistenoption ist weit weg von zuhause leider keine).

Perspektivwechsel: Ein bisschen Bayern in Berlin gibt es seit einigen Wochen in der Prinzenstraße: Das Prince Charles hat sich schick gemacht, um den fashionable Szenemenschen ein neuer Spielplatz zu sein. Im großen Außenbereich lässt es sich ordentlich loungen, im Sommer wenigstens, und das gut versteckt im Hinterhaus einer Art Fabrik (was sonst?). Eine großzügige Glasfront gibt den Blick frei auf eine 360° Bar, an der einem die Wahl aus lediglich einer Handvoll Drinks leicht gemacht wird – die allerdings zu fürstlichen Preisen. Und so fühlt man sich ein wenig wie derzeit in München mit seinem 8 € Moscow Mule in der Hand inmitten von sehr schönen, sehr schicken Menschen, darunter auch Männer mit hochgestelltem Kragen und Gel in der Haaren. Hoppla! Hat der Berliner etwa genug von der Abriss-Ästhetik? Braucht die Stadt einen Club wie das Prince Charles…?

Viel eher drängt sich nach gründlicher Inspizierung der Verdacht auf, dass die bayerische Hauptstadt gerne ein bisschen berlin wäre. Waffeln gibt es zwar in der Münchner Filiale von Kauf Dich glücklich nicht, dafür das bekannte Gute-Laune Prinzip und Verkäuferinnen, die genauso exzellent gekleidet sind wie ihre Kolleginnen vom Weinbergspark. Einen kurzen Spaziergang davon entfernt reiht sich eine kleine Boutique an die andere (manch tragen sogar das Berlin im Namen!), gibt es Straßenkunst zu bestaunen und in den liebevoll eingerichteten Cafés zwar kein WLAN (!), dafür aber Soja Milch. Die Türkenstraße in der Nähe der Universität gehört zum Pflichtprogramm eines jeden, den in der Ferne das Heimweh überkommt. Beim Frühstück im Gartensalon lässt es sich dann von der Kastainienallee träumen, aber ohne vorbeiflanierenden Mitteschick: Weil man zwar nicht im Garten sitzt, dafür in einem Innenhof auf bunten Holzstühlchen mit Blumentöpfen auf dem Tisch.

Abend, Nacht, zurück zum Jennerwein. Hausherr Bernhard, Münchner, temporärer Wahlberliner, Heimkehrer, ist zugleich stolzer Besitzer des Santo Anger, einer Pizzeria mit inkludiertem Rock’n Roll Konzept. Die Bedienung, die Pizzen, die Musik, das gute Gefühl, das man da hat, lässt die Rezensentin an das heilige Tryptichon Il Ritrovo, Il Casolare und I Due Forni denken. Das befindet sich, na? na? – in Berlin. Wieder ein Stück Heimat in der Fremde also. Schade um den Hauswein, der im Il Ritrovo in der halben Liter Karaffe daher kommt. Entschädigt wird man im Santo Anger vom genialen Chilli- und Knoblauch Öl, stilvoll kredenzt in der überdimensionalen Ein-Liter-Campari-Flasche.

München, die geilste Stadt der Welt? Bei allem Wohlwollen: Das nun nicht. In der Kategorie Freistaat gibt es ja auch, zugegeben, wenig Konkurrenz und gegen Berlin kann man derzeit sowieso nicht gewinnen. Stilvoll am unerreichbaren Vorbild zu scheitern, das kriegt München aber ganz gut hin. Die Pizza schmeckt an gewissen Orten mindestens so gut wie zuhause, die elektronische Tanzmusik ist sowieso ortlos – und manches Schwabinger Märchen könnte ganz genau so auch in einer Kreuzberger Nacht erzählt werden.