Ist das Kunst oder kann das weg?

Wohl im Leben eines jeden Bachelorstudenten kommt einmal der Punkt, an dem er sich fragt, inwieweit das, womit er sich da beschäftigt, eigentlich Sinn macht. Gemeint ist nicht die Antwort auf die gefühlt bereits zweitausend Mal gehörte Frage “Und was machst du später mal damit?”, sondern das Hinterfragen des studierten Gegenstandes als solchem.

Im vorliegenden Fall fällt dieses Hinterfragen bedauerlicherweise mit einer schon von Natur aus heiklen Angelegenheit zusammen, nämlich einer Exkursion. Schon beim Wort Exkursion ziehen beängstigende Bilder am inneren Auge vorbei: stinkende Socken, die zum Trocknen im Vier-Bett-Zimmer aufgehängt werden, schlechtes Essen, das sich aus nicht mehr identifizierbaren Bestandteilen zusammensetzt, billiger Alkohol, Schlafmangel und Instant-Zitronen-Tee. Glücklicherweise liegt die Schulzeit bereits ein Weilchen zurück und so stellt man angenehm überrascht fest, dass man heute – Dekadenz! – mit dem Flugzeug statt dem Bus reist und in einem Hotel untergebracht ist und nicht in einer Jugenherberge.

Nach der Ankunft Gespräch mit Künstler X, Meisterschüler bei Künstler und Übermensch Y. Es geht um Vatermord und Kollegenneid und bald ist klar: Übermensch Y konnte technisch gesehen überhaupt nicht fotografieren, vielmehr hat seine Frau diesen Teil der Arbeit übernommen und er war auch nie da, sprich, wenn Schüler der Kunstakademie Kontakt zu ihm aufnehmen wollten, wurde ein Termin am Flughafen vereinbart, dann nämlich, wenn Y dort zwischen zwei Flügen eine Stunde Aufenthalt hatte. Ferner, dass Übermensch Y keinen anderen Stil als seinen Eigenen akzeptierte, was dazu führte, dass alle seine Schüler gut daran taten, die gleichen Motive wie er zu fotografieren.
Professor Z, der die Exkursion und das dazugehörige Seminar leitet, versucht die Diskussion in eine bestimmte Richtung, nämlich seine Eigene, zu dirigieren, was nicht gelingt, da Künstler X wenig bis kein kunsthistorisches Wissen vorzuweisen hat.
Folglich wird die Frage, ob er bei der Aufnahme der Baumsilhouette am Horizont der afrikanischen Steppe an Caspar David Friedrichs “Wanderer über dem Nebelmeer” gedacht habe, verneint: nein, daran habe er gar nicht gedacht, der Baum da, das sei Zufall gewesen.

Allzu sehr erinnert das die Exkursionsteilnehmer an den Besuch eines Fotografen einer großen Presseagentur, den Professor Z vor Kurzem ins Seminar eingeladen hatte. Auch damals liefen sämtliche Bemühungen, die Arbeiten des Gastes einer kunsthistorischen Analyse zu unterziehen, ins Leere. Auf die Frage, ob er bei dieser Aufnahme hier Bezug auf Manets “Erschießung des Kaisers Maximilian” genommen habe, folgte ein Moment peinlicher Stille und es war klar, dass der Fotograf das Bild gar nicht kannte. Anstatt über den Goldenen Schnitt redete er sowieso viel lieber darüber, wie er mit Rainer Werner Fassbinder nach dem Fotoshooting Einen trinken war und über die schönen Beine von Paloma Picasso.

Zurück zum Künstlergespräch. Weiter erfahren die Zuhörer, dass es sich bei der besuchten Ausstellung sozusagen um ein kuratorisches Luftschloss handelt, weil nämlich der angeblich offensichtliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Künstlerpositionen nicht besteht; dass vielmehr der Kurator in einem Anfall von Größenwahnsinn sich diesen sozusagen aus der Nase gezogen und zusammengebastelt hat, indem er Werkgruppen der teilnehmenden Künstler herauskramte, die etwa während deren erstem Semester entstanden waren und jenseitig weit entfernt sind von dem, womit sie sich heute beschäftigen. Kurz gesagt: Der Künstler B. hat am Anfang seines Studiums, sagen wir mal, Katzen vor ihrem Fressnapf fotografiert, für die Ausstellung werden diese ersten stümperhaften Versuche künstlerischer Arbeit als repräsentativ ausgegeben, obwohl B. heute sehr erfolgreich, sagen wir mal, Landschaften in Süddeutschland malt. Nach zweieinhalb Stunden Diskussion schließlich zweifelt man am Begriff des Künstlergenies, der Autonomie von Kunst, dem Mehrwert akademischer Ausbildung und sowieso an der Kompetenz des Kurators.

Nächster Programmpunkt: eine Ausstellung über abstrakte Malerei. Die berechtigte Frage lautet: was hat die Exkursion eines Seminars über Zeitgenössische Fotografie mit abstrakter Malerei zu tun? Professor Z. setzt zu einem ausführlichen Vortrag an über Sehen lernen und das eigene Sehen reflektieren und den Gegenpol zur Flut von Bildmaterial und medialen Abfallprodukten und dabei ist klar, dass er selbst einfach gerne die Ausstellung sehen wollte.

Zwangsläufig sieht sich die Rezensentin an Ort und Stelle konfrontiert mit der Art von Kunst, welche die größtmögliche Aversion bei ihr hervorruft und sie kann nicht anders als wenigstens innerlich den Kopf zu schütteln angesichts einer Leinwand, die einfach nur schwarz ist. Es ist dies einer der Momente besagten Zweifelns, zweifeln am Fach, zweifeln an der Kunst überhaupt und ein bisschen an sich selbst. Plötzlich machen Buchtitel wie “Das kann ich auch!” und “Das sagt mir was!” durchaus Sinn und ebenso die Kapitulation vieler Durschnittsmuseumsbesucher vor Exemplaren der Modernen Kunst. Darf man natürlich nicht laut sagen. In solchen Momenten denkt die Rezensentin an das Märchen “Des Kaisers neue Kleider” und ihr gefällt die Vorstellung eines Kindes, das mitten in einer Gruppe pseudo-informierter Kunstschaffender ausruft: “Aber da sieht man ja gar nichts!”.
Leider sind in der Ausstellung keine Kinder, dafür Kippenbergers Witwe und bald versammelt sich die Exkursionsgruppe in einem Raum mit acht – scheinbar – völlig identischen, nämlich komplett schwarzen Leinwänden. Die folgene Stunde dient der Schulung der eigenen Wahrnehmung, die mit einer absoluten Kontemplation einhergehen soll, die der Rezensentin einfach nicht gelingen mag, da sie hauptsächlich wahrnimmt, dass ihr diese Bilder nichts sagen wollen. Professor Z. eröffnet die anschließende Diskussion dann mit der absurden Frage, welches von den – zur Erinnerung: identischen – Bilder man denn gerne besprechen würde und dann geht es um religiöse Symbolik, Illusion von flächiger Räumlichkeit, sprunghafte Wahrnehmung und die Suche nach dem absoluten Schwarz.

Dies könnte der Moment sein, in dem man vollständig zu Grunde geht angesichts der völligen Beliebigkeit und, ja, Lächerlichkeit moderner Kunst. Dies aber ist überraschenderweise der Moment, in dem man zum allerersten Mal ansatzweise eine Ahnung davon bekommt, wie der Zugang zu solcher Kunst aussehen und woher die Faszination für sie rühren könnte.

Am Ende der Exkursion hat man also neuen Mut gefasst. Zu verdanken ist dies im vorliegenden Fall allerdings nicht so sehr der Plausibilität künstlerischer Selbsteinschätzung oder Qualität gesehener Werke als vielmehr den rhetorischen Fähigkeiten von Professor Z. Er ist so etwas wie der wahre Künstler, denn vielleicht haben sich die Anderen bei ihrer Arbeit gar nicht so viel dabei gedacht.