In vino veritas, sagt der Lateiner

Manche Leute reden mindestens so gerne über Wein, wie sie ihn trinken. Manche Leute können aber auch besser trinken als reden. Eine Weinverkostung ist ein Ort, an dem viel geredet wird, auch Unsinn. Für mich als Wortliebhaberin und Textproduzentin ein tolles Forschungsgebiet!

Für alle Neulinge lohnt sich als Vorbereitung zur ersten Verkostung ein Besuch im Supermarkt des Vertrauens. Der dortige Etikettencheck ist so etwas wie der Anfängerkurs der Weinsprache, Stufe A. Natürlich darf beim Kunden nicht der Eindruck entstehen, er habe von Wein keine Ahnung, weshalb sich waghalsige Zuschreibungen wie “Zucchini”, “Wildkräuter”, “Lakritze” erübrigen. Auf der sicheren Seite stehen Etikettentexter mit dem Beerenvergleich (“Kirschen”) und Farbvorschlägen (“dunkel”). Etwas vermeintlich Exotisches wie “Schokolade” findet sich zwar gefühlt auf jeder dritten Flasche, schüchtert aber nicht ein, weil der Kunde eher an die Süßspeise denkt als an den Wein. Ein wahrer Selbstläufer in Sachen Kaufanreiz ist das “Eichenfass”, denn Eichenfass klingt nach staubigem Keller, nach Sorgfalt und Tradition. Nicht zu vergessen die Empfehlung der Essensbegleitung (bei Rotwein eigentlich immer “dunkles Fleisch, Käse”, bei Weißwein “Fisch”). Der Supermarkt meines Vertrauens hat das ganz richtig erkannt und vor einigen Jahren eine Weintrinkertypologie erstellt, nach dem Motto “Welcher Trinktyp sind Sie?” Was für ein kluger move, liebt der zeitgenössische Konsument doch nichts so sehr, als sich in seinem Individualismus bestätigt zu wissen. Neben der patenten Hausfrau mittleren Alters (Weinsorte “lieblich”) klebte das Foto eines starken Kerls, der gewiss gerade den Grill angeworfen hat (Weinsorte “vollmundig”). Lustig, sich in die Hirnwindungen jener Marketingstrategen hineinzuversetzen, die diesen Coup gelandet haben. Was für Werbung im Allgemeinen gilt, trifft auf den Weinsprech besonders zu: Einfach mal labern und schauen, was passiert.

Gerüstet mit diesem Basiswissen und dem unvermeidlichen Notizblock und Stift, begebe ich mich zur französischen Botschaft, wo die Verkostung stattfindet. Veranstalter ist ein französischer Winzerbund, der eigener Aussage zufolge “gerechte und edle” Produkte herstellt und “einen offenen Geist lebt, der auch Menschen, die anderen Philosophien folgen, entgegenkommt.” Am Empfang nehmen zwei sehr schläfrige Garderobendamen meine Jacke entgegen – haben sie etwa eine Weinflasche unter dem Tresen versteckt, aus der sie abwechselnd trinken, wenn keiner schaut? – und schicken mich in den ersten Stock, wo sich bereits am frühen Mittag eine solche Menschenmasse um die rund zwanzig Tische drängelt,  als gäbe es etwas umsonst. Ha! Natürlich ist alles umsonst: Rotwein, Weißwein, Dessertwein, Champagner. Die einzelnen Tische sind durchnummeriert und nach dem Herkunftsort der Winzer sortiert. Einigen von diesen Winzern sieht man an, dass sie “mit der Erde arbeiten”, sie wirken, als hätten sie eben erst die Geräte zur Seite gestellt, was man wohl “geerdet und naturverbunden” nennt. Einer mit Lockenkopf und roten Bäckchen trägt eine tarngrüne Latzhose und könnte einem Bacchusgemälde entstiegen sein. Die Spritzer auf dem blütenweißen Tischtuch vor ihm machen einen ordinären Eindruck. Wo, wenn nicht hier, ist der perfekte Schauplatz für eine Werbekampagne für Rotweinfleckensalz?

Manche Weine werden aus Dekantern eingeschenkt. Ich frage nach dem Grund und höre als Erklärung die Metapher “Alle Menschen sind verschieden groß. Wie ein großer Mensch braucht ein großer Wein mehr Luft zum Atmen.” Ab 16 Uhr schenken die meisten Winzer nur noch genau einen Schluck ein im Vergleich zu den drei, vier Schlücken davor. Später werde, so lerne ich, “die Klopperei losgehen”, dann nämlich, wenn natürlicherweise die mitgebrachten Flaschen zur Neige gehen und die Ellenbogen ausgefahren werden, das ist dann auch nicht mehr anders als an der Supermarktkasse.

Nur einmal lässt sich ein ausgesprochen gut gekleideter, kultiviert wirkender Herr dazu hinreißen, mit dem Glas in der Hand in eine Denkerpose zu verfallen, mit der freien Hand am Kinn und einen Kennerblick aufsetzend, während seine Begleiterin auf den Auslöser der Smartphonekamera drückt. Abgesehen davon scheinen Ausfälle jeder Art undenkbar. Selbst zu fortgeschrittener Stunde, das heißt nach 15 Uhr, ist kaum jemand vom Alkohol gezeichnet, geschweige denn hat jemand einen sitzen (großartige Verbkonstruktion). Dass manche Wangen geröteter sind als andere, können zumindest die Damen mit dem Verweis auf ihr Rouge entschuldigen. Jemand gesteht, er sei nach seiner ersten Verkostung so betrunken gewesen, dass er sich erst mal auf die Wiese vor dem Sony Center legen musste. Dies zu verhindern weiß das phänomenale, natürlich “typisch französische” Buffet mit mindestens zwanzig verschiedenen Käsesorten, ofenwarmem Brot, Meersalzbutter, Foie gras und einer Art Kuchen aus geschmolzenem Käse, Speck und Walnüssen.

Allüberall zischt und seufzt und gurgelt es. Wirklich Leid tun einem die Hostessen, welche die Spucknapfe auswechseln müssen. Nicht alle, aber doch die Mehrheit um mich herum, entledigt sich des Weins mit einer Freude, Selbstverständlichkeit und Akkuratesse, die dem Gelegenheitsspucker großen Respekt einflößt. Die Weinverkostung ist ein Ort, wo der gezähmte Zivilisationsmensch endlich einmal körperlich werden darf. Ein magischer Ort, an dem sich Tischsitten in ihr Gegenteil verkehren: Geräusche zu machen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht und markiert Kennerschaft, wohingegen niemand sein Glas zum Anstoßen erhebt.

Der Trinkvorgang selbst ist hochkomplex: Selbstverständlich schnuppert man erst mal, ruhig tief die Nase ins Glas hinein! Als heikel erweist sich das Einsaugen des Gärsafts – es soll ein Unterdruck entstehen, damit sich durch die Zufuhr von CO2 das Aroma entfalten kann. Dabei macht man eine Schnute und saugt nach Kräften, was nach Schnappatmung klingt oder dieser Röcheltechnik bei, Yoga. Nach einem möglichst großen Schluck gilt es, den Wein möglichst lang im Mund zu behalten (den natürlichen Schluckreflex unterdrücken!), ihn hin und her zu murmeln, eventuell ein wenig zu spülen (bloß nicht im Rachenraum!). Zwischen den Schlücken wird der Wein im Glas durch lockeres, völlig natürlich erscheindendes Schwenken aus dem Handgelenk in Bewegung gehalten.

All das halte ich in für jedermann sonst unleserlicher Schrift auf meinem Notizblock fest. Für gewöhnlich begegnen einem Leute, die einen beim Schreiben beobachten, im besten Fall mit Interesse, im schlimmsten Fall mit Argwohn; vielleicht, weil sie dieses Kritikerding mit einer Form von prätentiösem Kennertum assoziieren. Ganz anders hier: Praktisch alle laufen mit Zettel und Stift umher. Nur einmal passiert es, dass mich jemand aufgrund meiner eifrigen Schreibtätigkeit für jemanden von der “Weinfachpresse” hält und mich mit Hintergrundinformationen versorgt. Durch den Notizblock versichern sich die Anwesenden gegenseitig ihrer Position als Connaisseure und grenzen sich gleichzeitig zu den wenigen ab, die nicht schreiben, sondern bloß trinken. Notizblock und Stift bei der Weinverkostung sind der Porscheschlüssel des kleinen Mannes. Es macht ja auch unglaublich viel Spaß, nach jedem zweiten Schluck (ausgiebig im Mund hin- und hergespült, nach dem Schlucken “nachhorchen”, sofern man Schlücken nachhorchen kann), die Stirn in Falten zu legen und so zu tun, als ertränke man den Wein in einer Flut von Adjektiven.

Bloß, in welchen Adjektiven? Einmal glaube ich jene Emeukal-Bonbons zu schmecken, die einem die Apothekerin zusteckte, als man klein war. Abgesehen davon hapert es mit der kreativen Wortfindung. Umso aufmerksamer höre ich, was die Leute um mich herum so von sich geben. Etwas zu oft fallen die wenig aussagekräftigen Füllwörter “komplex”, “anspruchsvoll”, “rund” und “zugänglich.” Facettenreicher erscheinen mir die Zuschreibungen “animalisch,” “fleischig” und “unruhig.” Einen Preis für Originalität bekommen die “Anklänge an Mokka”, “Marzipan”, “Christstollen.” Stehen verschiedene Jahrgänge derselben Sorte vor einem, bietet sich die Wertung “ein großer Jahrgang” an. Wenn einem schlicht die Worte fehlen, behelfe man sich mit einem knackigen “gutes Zeuch.” Einmal höre ich jemanden sagen, dieser Wein werde ab dem zweiten Glas immer besser und ich denke, ja, das kenne ich.

Ein Hauptproblem ist gewiss, dass ich beim nächsten Stand meist vergessen habe, wie die Weine des vorherigen geschmeckt haben. Man nennt das vielleicht ein ” schlechtes Trinkgedächtnis” oder eine “Aromalandkarte mit vielen weißen Flecken.” Mein absoluter Favorit ist ein toskanischer Wein (die Toskana hat noch mal was mit Frankreich zu tun?) aus dem Jahr 2010, mit einem Alkoholgehalt von 15,5%. Sollte es so einfach sein?

So einfach ist es wahrscheinlich nicht. Eher so wie auf der Postkarte, die ich geschenkt bekommen habe. Zwei Männer sind darauf zu sehen, kernige Typen, eher bretonische Fischer als südfranzösische Winzer, mit Schiebermütze, Lederjacke, Zweiwochenbart. Das Foto hat Instagramcharme und die Typen Hipstercredibility, dabei ist ihnen ihr Outfit ziemlich sicher ziemlich egal. Einer raucht Zigarillo, beide versuchen unter sichtbaren Mühen eine Flasche zu entkorken. Es ist bestimmt nicht die erste. Über dem Foto steht: “Es dauert lange, bis man ein richtiger Weinkenner wird. Aber es ist eine schöne Zeit.” Ich freu mich drauf.