Ich komme, um mich zu beschweren

In die allgemeine Polyphonie der Befindlichkeiten einer Generation, die sich zwischen Selbstverwirklichungsanspruch, Post-Identität und einer neuen Sehnsucht nach alten Idealen möglicherweise so selbstreflexiv, auf jeden Fall mit einem so unbedingten Willen zur rückhaltlosen Selbstbespiegelung will wie keine vor ihr, schreibt sich eine junge Autorin ihre ganze Haltlosigkeit aus ihrem Wutbauch hinaus. Andrea Baum, geboren 1984, versucht sich mit „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“ am Porträt eines Zeitgeistes, der sich irgendwo auf dem Weg zwischen Sinnfrage und Kapitulation selbst abhanden gekommen ist.

Baums namenlose Protagonistin flüchtet nach dem Abitur von der Provinz in die Metropole, wo sie sich sogleich einen erfolgreichen Berufstätigen ausguckt, der sie mietfrei und ohne sexuelle Ansprüche an sie zu stellen bei sich aufnimmt. Patrick arbeitet bei einem Kunstmagazin, woraus in der natürlichen Logik der Erzählung folgt, dass er hauptsächlich damit beschäftigt ist, auf „geile Geschichten“ und Gewinnmaximierung hinzuarbeiten und sein permanent unter kreativem Leistungsdruck stehendes Großhirn dabei mit illegalen Substanzen fit hält. Dabei kompensiert er doch nur die bodenlose Leere in seinem Inneren, mit der schließlich alle Endzwanziger und ganz besonders jene, die „was mit Medien machen“, zu kämpfen haben. Gleichwohl sich Patrick also tapfer gegen die in seiner post-68er Biografie angelegte Bindungsunfähigkeit wehrt, scheitern er an der ihrerseits ebenfalls bindungsunfähigen Protagonistin. Schließlich hat diese eine „normal problematische“ Kindheit hinter sich – Vater Goetz ein Egomane mit „Unterm Strich zähl ich“-Attitüde, Mutter Carmen leidgeprüfte Kettenraucherin mit Selbstverwirklichungsambitionen – und ist zudem mit einem Vaterkomplex abgestraft, der sie zu den Exemplaren zieht, die so unverfügbar sind wie ihr Erzeuger. Ein solches Exemplar ist Jo: Schauspieler, Lebenskünstler, egomaner Bewohner eines unbewohnbaren „Zahns“, wo die Protagonistin nach der Trennung von Patrick viel Zeit damit verbringt zu warten. Auf ihren narzisstischen Freund, auf einen Lebensplan und darauf, dass die hasserfüllte Stimme in ihrem Inneren schweigt. Das heißt, vorangegangen ist dieser Zeit des Wartens eine kurze, erfüllte Episode bedingungsloser Liebe, deren Beschreibung sich liest wie der zaghafte Versuch, doch an so etwas wie Geborgenheit zu glauben. Jos unsteter Charakter führt aber doch zuverlässig in die Katastrophe, deren vorläufiger Höhepunkt das Geburtstagsessen des Dramatikerfreundes markiert. Hilflos muss die Erzählerin zusehen, wie sich eine „Unproblematische“ an den Hals ihres Freundes wirft, dabei war sie doch gekommen, um Jo von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Mit der Abtreibung wiederholt sich die elterliche Schuld zweier Menschen, die sich nicht kennenlernen hätten dürfen. Nach dem Scheitern am „Universitätskomplex“, dem letzten Versuch der Erzählerin, sich den Anforderungen einer gesellschaftlichen Existenz zu stellen, beschließt die Protagonistin zu sterben. Am Ende glaubt sie verstanden zu haben. Was? Alles.

Berlin, unübersehbar Schauplatz der Geschichte, trägt seinen Teil bei in Form der geschichtslosen, anonymen Menschenverschlingungsmaschine, für die sie in der Gegenwartsliteratur oft genug Platzhalter ist (wenn nicht gerade ein Loblied auf ihren multikulturellen Pluralismus gesungen wird). Woran genau der Unmut der Protagonistin darüber hinaus festzumachen ist, das scheint diese selbst nicht zu wissen, eben sowenig wie ihre Schöpferin. Antonia Baum betont, es gehe in ihrem Roman nicht so sehr um das „Warum“, sondern das „Wie“, der Blick der Protagonistin auf die Welt um sie herum.

Leider verfängt sich die Autorin an einigen Stellen in stereotypen Gegenwartsklischees, die man so einfach schon zu oft gelesen hat: Wenn ihre Protagonistin etwa über rund zwanzig Seiten hinweg aus der Sicht des scheinbar unbeteiligten Betrachters (der sie natürlich keineswegs ist) eine dekadente Festgesellschaft textlich in Stücke reisst, inklusive imaginärer finaler Splatterorgie auf der Kokstoilette, verliert ihre Sprache zwar nicht an Tempo, die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers hingegen schon. Man kann Baum zudem vorwerfen, ein wenig zu gerne in der mittlerweile arg strapazierten Wunde der ach so entfremdeten Konsumgesellschaft zu bohren oder ihrer Protagonistin die gleiche Frage nach einer Alternativlösung zu den von ihr beklagten Zuständen zu stellen wie ihren Altersgenossen, die aktuell zum weltweiten Kampf gegen die Finanzmärkte rufen. Dass die Geschichte dennoch funktioniert und selbst die Passagen, in denen es um Sex, Drugs und Berghain geht, nicht zum Hegemann-Abklatsch werden, liegt größtenteils an Antonia Baums Fähigkeit, ihren Abscheu vor einer totalitären gesellschaftlichen Verwertbarkeit in eine angemessen-überdrehte Sprache zu überführen, im Stakkato-Sound einer Technoplatte, immer kurz vor dem Kollaps.

In einem Interview anlässlich ihrer Nominierung für den diesjährigen Bachmann-Preis stellt sich die Autorin die Frage nach der Relevanz ihrer Erzählstrategie. „Will das noch irgendjemand lesen?“ Damit trifft sie den Tenor vieler Kritiker, insbesondere denen in der Klagenfurt Jury. Sie selbst habe irgendwann beschlossen, sich diese Frage nicht mehr zu stellen.

Erstmal ist Antonia Baum gekommen, um sich zu beschweren. Vielleicht auch, um zu bleiben.