I prefer to!

Heute bei der Morgenlektüre – Thomas Assheuer fasst in der Zeit das Aufregerthema der Woche so zusammen: “I prefer not to.” Nachdem bereits einige Intellektuelle sich zur Nichtwahl bekannten, moserte zuletzt der Spiegel unter dem Titel “Wie Nichtwähler die Demokratie verspielen.” Assheuers Essaytitel wiederum bezieht sich auf den fiktiven Schreibgehilfen Bartleby, der in einer Kurzgeschichte von Herman Melville dank seines Phlegmas erst seinen Job verliert, dann im Gefängnis landet und schließlich verhungert. In Andenken dieses Anti-Helden sieht Assheuer überall kleine Bartlebys aufploppen (wie viele von ihnen wohl den Mittelfinger zeigen?). Demokratie wagen? I prefer not to. Nicht wählen gehen als Verweigerungsgeste, als einzig vertretbare Haltung zu einer der eigenen Aktion verschlossenen Welt.

Deutschland, Deine Wähler: Politisch interessierte bis aktive Jugend einerseits (man stelle sich vor: die Generation U-21, die ihrer Volljährigkeit entgegenfiebert wie unsereins seinem achtzehnten Geburtstag, als endlich der gefälschte Schülerausweis entsorgt werden konnte), erwachsene, ihren Trotz intellektuell aufbauschende Trotzköpfe andererseits. Früher war Nichtwählen ja ein Problem der sogenannten Unterschicht – vielleicht weil RTL 2 keine Wahlwerbung sendet, vielleicht aber auch, weil in dieser Schicht eine Stammtischmentalität regiert, nach dem Motto: “Alle Politiker lügen” oder “Es ändert sich eh nichts” oder “Hauptsache, der Bierpreis stimmt.” Heute machen vermehrt die explizit politisch denkenden Bürger ihrem Ärger durch den Wahlboykott Luft. Selbstverständlich führen Berufskluge wie Slavoj Žižek und Harald Welzer dafür andere Gründe an als Lieschen Müller. Dauerargument der So-Denkenden: Die Parteien sind profillos, ähneln sich immer mehr, es gibt keine echten Alternativen. Recht haben die So-Denkenden. Aber hoppla: Es gibt sie doch, die Alternativen! Ein Spaziergang durch den Schilderwald im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gleicht einem Ideenfeuerwerk. Alles so schön bunt hier – und bei weitem nicht nur das.

Los geht es mit der Piratenpartei. Von allen Folgenden ist sie die etablierteste, selbst der kauzige Bayernwähler musste deren Anblick vergangenen Sonntag auf dem Stimmzettel ertragen. In vielen Winkeln des Landes ist die Piratenpartei gleichbedeutend mit “diesem Internet” und höchstenfalls noch “dieser Datensache.” In Berlin ist man, was die Offenlegung des Parteiprogramms betrifft, sehr viel mutiger: “Cannabis legalisieren” heißt es da keck. Wer diesen Topf aufmacht, gar Anbiederung an politikferne Schichten vermutet, soll wissen, dass die Grünen planen, im Görlitzer Park den ersten offiziellen Coffeeshop der Bundesrepublik zu eröffnen. Einen Coffeeshop! Im Görlitzer Park! Wäre ich die CDU, ich hätte die Sache ausgeschlachtet, hätte mit Floskeln wie Verrohung und Verdummung und Endzeitstimmung hantiert. Nichts dergleichen; es scheint, als sei diese Meldung im Tohuwabohu der Talkshows und Fernsehduelle untergegangen. Unangefochten an der Spitze der Piratenplakate steht allerdings der schmissige Slogan “Deephouse statt Townhouse”, darunter ein skizzierter Lautsprecher mit ordentlich Wumms. Gemeint ist das Großprojekt Mediaspree, das Clubs und Strandbars durch Luxusappartments ersetzen will. Ein kleiner Schritt für Gesamtdeutschland, ein großer Schritt für Leute, die vom Spreeufer auch in Zukunft mehr haben wollen als den Blick auf Carlofts. In meinem Bezirk die Piraten zu wählen, hat fast etwas Realpolitisches.

Noch etablierter als die Piraten sind natürlich die Grünen. Angehörige meiner Generation kennen die Schauermärchen von strickenden Bundestagsabgeordneten und Joschka Fischer in Nike Airs. Heute wählen selbst unsere Eltern grün, schon deshalb muss sich der Direktkandidat meines Bezirks mehr einfallen lassen. Überall sonst wäre dieses niedliche Comicplakat doch undenkbar! Direktkandidat Ströbele, in Jeanshose und Jeanshemd, energisch wehender roter Schal. Ein wenig erinnert seine Körperhaltung an die eines Orang-Utans, ein Bein in der Luft, die erhobenen Arme angewinkelt, die o-förmigen Lippen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man das Baugitter, das Ströbele mit der Kraft einen Jungspundes auseinanderbiegt. Hinter ihm schart sich eine ganz und gar heterogene Community (“bunte Vielfalt”), Plakate schwenkend, den Schalk im Nacken. Eine Friedensfahne weht (“Pace”), in der Ferne blinkt der Fernsehturm. Diesseits des Bauzauns grünt ein – vermutlich kommunal bewirtschafteter – Urban garden.

Von Ströbeles Grünzeug ist es nicht weit zu den Belangen der Tiere. Beim Durchschlendern des Plakatdschungels fällt die hohe Affinität zu Tierdarstellungen auf. Deutschland hat die Tierschutzpartei, Berlin hat die Hundefreunde Kreuzberg. Anders als Ströbeles Kinderkritzelei, setzt diese Partei auf fotografischen Realismus. Eines ihrer Wahlplakate zeigt einen stolz aufgerichteten Zwergpinscher, darüber der Claim “Wenn ich groß bin, werde ich Bundeskanzler. Mozart 6 Monate.” Ein Blick ins Parteiprogramm offenbart, dass die Hundefreunde großen Anteil nehmen an dem staatlich verordneten Hundemord in Rumänien und dem Hundegesetz in Hamburg, aber auch lokale Themen wie der Hundeplatz an der Schillingbrücke kommen nicht zu kurz. Schade bloß, dass die Website zum Tempelhofer Feld noch im Umbau ist (so kurz vor der Wahl!). Handelt es sich doch um ein Thema, das nicht nur das Blut von Berliner Tierliebhabern in Wallung bringt.

Dass Tiermotive ziehen, haben auch Die Violetten verstanden. Gleichwohl es ihnen mehr um die Belange der Menschen als um die der Tiere geht (sind es doch die Menschen, die am Sonntag ihr Kreuzchen machen!), ziert ein lilafarbener Schmetterling das Logo der Partei. Ihre Politik ist “inspiriert von Liebe und Gemeinsinn”, sie verstehen sich als “Vertreter und Sprachrohr einer wachsenden Zahl von spirituellen Menschen.” In der Praxis bedeutet das die Befürwortung eines bedingungslosen Grundeinkommens und die bahnbrechende Idee eines Autos, das zu 70 % aus Naturprodukten besteht. Ach, der Hanf: Während die Piraten dessen Legalisierung fordern und die Grünen die Entmonopolisierung des Umschlagplatzes Görlitzer Park, wollen die Violetten daraus Autos bauen.

Bei so viel Realsatire braucht es Die Partei eigentlich gar nicht. Es gibt sie aber. Gegründet vom Chef des Satiremagazins Titanic, kommt sie mit so herzallerliebsten Ideen daher (“Wowereit ausstopfen! Künast frisieren! Knut wiederbeleben!”), dass man sich eine Dritt- und Viertstimme wünscht. Jedes ihrer Wahlplakate ist ein Minikunstobjekt; lobende Erwähnung soll hier deswegen nur jenes finden, auf dem eine junge Frau mit Einhorn posiert, wolkig umrahmt, in ein diffuses Licht-Schatten-Spiel getaucht. “Ein Horn, ein Wort.” Leider kandidiert Anna “Realpolitikerin” Bauer nicht in meinem Wahlkreis, sonst wäre meine Stimme ihr gewiss. Okay, eines noch: Ein lädierter Moppelhase unter dem Schriftzug “Wenn Sie eine andere Partei wählen, stirbt irgendwo ein kleines Häschen.”

Ganz und gar nicht lädiert ist dagegen das Maskottchen der Bergpartei (“Die Überpartei”). Ein wirkliches Parteiprogramm gibt es nicht, das ist beabsichtigt; soll es doch um Gedankenspiele gehen, um Utopien und Versuchsräume. Aus diesem Grund hat jeder Kandidat seine eigene Vision. Entsprechend blasenhaft sind die Wahlplakate. Manchmal gähnt den Betracher eine existenzielle Leere an. Manchmal das Parteimaskottchen “Hasi Hase.” Hase mag Fahrräder lieber als Autos (denn sie brennen nicht) und wenn er fordert “Denken und denken lassen”, dann trägt er eine Streberbrille. Es gibt auch ein Plakat ganz in rosa, darauf steht: “Liebe.”

Auch wenn die Liebe bei den meisten Parteien eine sekundäre Rolle spielt, muss man seiner Pflicht als Bürger einer Demokratie nachkommen, finde ich. Es ist ein bisschen so wie mit dem Tote Hosen-Hit: Keine Wahl ist auch keine Lösung. Auch der letzte Bild-Leser hat doch verstanden, dass nicht zur Wahl gehen bedeutet, den extremistischen Parteien Vorschub zu leisten. Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit, hat es bei Twitter so formuliert: “Wer es schafft in 4 Jahren 1000 Mal zu liken und 1000 Mal zu faven, dem sollte es auch möglich sein, einmal zu wählen.” Gewählt wird, was der Überzeugung entspricht (gilt natürlich nicht für rechtsextremistische Kackscheisse). Nur weil einige der Parteien relativ sicher nicht die Fünf-Prozent-Hürde nehmen werden, heißt das nicht, dass man aus den anderen das kleinere Übel wählen muss. Erinnert sich noch jemand an die Anarchistische Pogo Partei Deutschlands (APPD)? Rebellische Teenies wie wir fühlten uns dereinst (anno 2005) sehr verstanden von dieser ausgewiesenen Blödeltruppe. Von ihnen stammt auch der Spruch “Meine Stimme für den Müll”, prominent vertreten auf Buttons und Stickern und hervorragend geeignet, um Erziehungsberechtigte in den Wahnsinn zu treiben. Heute halten wir es eher mit der Bergpartei: “Wenn das, was uns regiert, Sozialdemokratie oder Sozialistendemokratie oder Christdemokratie oder Freidemokratie oder Gründemokratie sein soll, dann sind wir eben die Bergdemokratie.”

We prefer to! Geht wählen!