I’m not there (How to rule the art world)

Eine goldene Party-Regel sagt: Wer interessant sein will, bleibt weg. Je mehr Gäste mit dem eigenen Auftritt rechnen, umso besser. Facebook sei Dank – mit einem Klick lassen sich sämtliche Zusagen und Absagen einer „Veranstaltung“ einsehen. Was zählt, ist die klug inszenierte Nicht-Präsenz, der planvolle Entzug der körperlichen Anwesenheit. Simple psychologische Mechanismen sorgen dafür, das weiß jeder, dass Durchschaubarkeit langweilt, Geheimnis Neugier weckt. Weil die documenta, die im Fünfjahres-Rhythmus Kunstausstellung in Kassel, nichts anderes ist, als eine einzige große Kunstsause, greift das Prinzip der aufregenden Abwesenheit auch hier. Die besten Künstler sind die, deren Spuren man vergeblich sucht.

Einer der Hauptschauplätze der documenta ist das Friedericianum, ein klassizistischer Museumstempel in Kassels wunderbar ereignisloser Stadtmitte. Mit diesem Paradebeispiel deutscher Nostalgiebesessenheit wurden Studenten des kunsthistorischen Instituts der FU Berlin schon im zweiten Bachelorsemenster gequält (E-Learning, Basismodul Einführung in die Architekturgeschichte). Hängen geblieben ist davon herzlich wenig, außer, dass ein “Portikus” das Portal schmückt, wobei bereits die einzelnen Bestandteile der pseudo-hellenistischen Säulen bei Wikipedia nachgeschlagen werden müssten. Angenehmer Nebeneffekt einer Ausstellung über zeitgenössische Kunst: Das historische Drumrum braucht uns nicht zu interessieren. Beim Betreten des Friedericianums fällt der Blick zuerst auf einen manifestartig aufbereitete Wandinschrift: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.“ Auch wenn sich mir die Metaebene dieses kleinen Textes weder sofort, noch zu einem späteren Zeitpunkt erschloss, geschweige denn sich eine plausible Anbindung an ein Kunstwerk oder eine Werkgruppe ergab, findet er sogleich Eingang in mein Ideenbuch.

In den Räumen links und rechts des Eingangs erwartet den Besucher: Nichts. Während ich den documenta-Katalog zu Rate ziehe, trippelt meine Begleitung mit ungeduldigen Schritten schon zum nächsten Raum und beschwert sich über den unangenehmen Durchzug. Tatsächlich könnte man meinen, hier habe eine unwirsche Reinigungskraft sämtliche Fenster aufgerissen. „Das ist der Wind der Veränderung“, bemerkt ein Besucher neben mir, halb scherzhaft, halb ernst. Tatsächlich ist das einer von drei Beiträgen des britischen Künstlers Ryan Gander. Im Katalog heißt es: „Der Wind ist nicht kräftig, nicht ohne Weiteres als künstlich erzeugt erkennbar, aber doch spürbar genug, einen Augenblick der Verwunderung bei dem Besucher hervorzurufen, der sich dort befindet, wo „das Herz“ der documenta schlagen soll.“ Ganders “I Need Some Meaning I Can Memorise (The Invisible Pull)“ ist ein humorvoll-spielerischer Beitrag, site specific, das heißt eigens für diesen Raum entwickelt, daher institutionskritisch und also nicht nur ein herrliches Beispiel für gelungene Konzeptkunst, sondern auch der Beweis, dass Kunst lustig oder wenigstens heiter sein kann.

Leider weiß nicht jeder solch feine Lakonie zu würdigen. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal an diesem Tag fühle ich mich wie eine Ritterin der vagen künstlerischen Handschrift, die sozusagen stetig eine Lanze für einen Kunstbegriff brechen muss, der abseits von figürlicher Malerei und realistischer Skulptur angesiedelt ist. Fairerweise muss man aber auch die stoische Genügsamkeit loben, mit der die allermeisten documenta-Besucher dem Topos „zeitgenössische Kunst“ begegnen, der ja gerade für höhere Jahrgänge oft ein Reizwort avant la lettre bedeutet. Auch Studenten der Kunstgeschichte sind ja nicht frei von Ressentiments (ich verweise auf meinen Essay über eine Serie schwarzer Leinwände). Umso erstaunlicher, wie geduldig sich die mit Gehhilfen und Leselupen ausgerüsteten Rentnergrüppchen in die Schlange für das „Brain“ einreihen, tief über ihr fünfhundertseitiges documenta-Begleitbuch gebeugt, dessen Texte einen mehrheitlich so ratlos vor den einzelnen Werken stehen lassen wie ohne – wobei gesagt werden muss, dass viele trotzdem anregend und klug geschrieben sind, nur eben ähnlich kunstvoll-verschwurbelt bis nichtssagend wie Seminararbeiten und Klappentexte ambitionierter Kunsttheoretiker.

So wichtigtuerisch manche Autoren ihr aufgeblasenes Autoren-Ich in besagten Klappentexten unterbringen, so bescheiden geben sich Künstler wie Ana Prvacki. Deren documenta-Beitrag ist noch immaterieller als der von Gander. Sie engagierte eine Handvoll Coachs und Benimmlehrer, die dem documenta-Personal (Ausstellungsführer, Kartenverkäufer, Sicherheitsleute usw.) feine Umgangsformen beibringen sollten. Dies entnehme ich dem Begleitbuch, das dankenswerterweise darauf hinweist, dass „Höflichkeit und Manieren helfen können, den Blutdruck auf einem gesunden Niveau zu halten.“ Daneben ist eine schwarz-weiß- Fotografie von der Großmutter der serbischen Künstlerin abgedruckt, die so etwas wie die personifizierte Gastfreundschaft gewesen sei, „immer apart und elegant war und guten Kuchen buk.“

Während sich meine Begleitung an Thomas Bayrles betenden Motoren, den dreitausend Jahre alten Baktrischen Prinzessinnen und den plagiierten „Alten Meisten“ von Yan Lei erfreut, frage ich mich, was die „Dame mit Hermelin“ mit meinem Leben zu tun hat oder wenigstens mit meiner Gemütsverfassung. Wo meine Begleitung dagegen einen Haufen Gestrüpp vermutet, offenbart sich mir ein poetischer Weltentwurf. So geschehen in der Karlsaue, der pittoresken Parkanlage unweit des Friedericianums. Einige der Künstler haben Pavillons errichtet (und zeigen darin kino-taugliche Kurzfilme wie Omer Fast), andere kapitalismus-kritische Dreckhügel aufgeschüttet, auf denen blinkende Neonröhren „Doing“ und „Nothing“ verkünden (Song Dongs „Doing Nothing Garden“). Der französische Künstler Pierre Huyghe hat ein Areal von nicht geringem Ausmaß so sachte bearbeitet, dass die Grenze zwischen Natur und Manufaktur verschwunden ist. Das Schild am Eingang des Geländes nennt den Künstler, den Titel der Arbeit und als Materialangabe: „Lebendige Wesen und leblose Dinge, gemacht und nicht gemacht, Maße und Dauer variabel.“ Ein nachlässig festgestampfter Weg führt zwischen mit buntem Unkraut überwucherten Hügeln herum, an Drecklachen und einem wie vom Sturm entwurzelten Baum vorbei (eine Referenz an Beuys’ “7000 Eichen”!), über Steinplatten und Rindenmulch, Gräser und Moose. Glücklicherweise ist das Wetter schön, die Luft flirrend, der Wind mild, es riecht nach Blumen, deren Namen ich nicht kenne, Blätter streifen die Haut, man muss Acht geben auf Brennnesseln und Ameisenkolonien. Von ferne sieht man eine Skulptur, ein antik anmutender Männerkörper, anstelle des Kopfes thront ein Bienenstock, daher das stetige Summen. Wovon man so viel gelesen hat in den letzten beiden Tagen, nämlich vom kuratorischen Verständnis einer animistischen, das heißt die Einheit von Menschen, Tieren und Dingen beschwörenden Kunstschau, konkretisiert sich erstmals in Huyghes Beitrag. Ließe sich auch einwenden, es sehe hier aus wie auf den Wiesen jenseits unseres Dorfes, ist es doch gerade die bravouröse Abwesenheit des Künstlers, der geschickte Entzug seiner schöpferischen Tätigkeit, die diese Arbeit zu einer der erinnerungswürdigsten macht. Auch wenn ich den „fluoreszierenden Hund, der seine Welpen im Schatten von Betonplatten entwöhnt“ nicht finden kann.

Erneut hat also das Begleitbuch (zum Ständig-unter-dem-Arm-tragen eigentlich viel zu schwer) seinen Dienst getan. Erfreut lese ich im Inhaltsverzeichnis, dass Tino Sehgal einen Nebenraum des Hugenottenhauses in der wunderbar ereignislosen Kasseler Innenstadt bespielt. Bekannt ist Sehgal für seine Weigerung, etwas von dauerhafter Präsenz zu schaffen: Bei seinen Ausstellungen herrscht strengstes Fotoverbot, es gibt keine Angaben zum Werk, keine Auskunft der Teilnehmer, keine Katalogtexte. Man muss – und das ist in unserer Zeit des virtuellen Fetischs lobenswert genug – selbst daran teilhaben.

Ein freundlicher (und also von Ana Prvacki geschulter?) documenta-Mitarbeiter weist den Weg in ein niedriges Gebäude. Es ist stockdunkel. Hilflos mit den Armen rudernd, dann wieder plötzlich innehaltend (aus Angst, jemandem zu treffen) tappt man in Richtung Raummitte. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, wie man so schön sagt, zeichnen sich die Silhouetten anderer Menschen ab, stehend, sitzend, an die Wand gelehnt. Sie singen. Es ist, als wäre man Zuhörer einer A-cappella-Chorprobe. Dabei scheinen die kurzen Liedausschnitte improvisiert, keinem Muster und keinem Konzept folgend. Irgendwo im Raum fängt einer an, andere fallen ein, zitieren Popsongs, alte und neue, summen unbekannte Melodien, variieren bekannte Hits. Einer greift die hingeworfenen Noten des anderen auf und wirft sie dem nächsten zu, wie bei diesem Spiel mit dem Wollknäuel. Man selbst ist Teil dieser Klanglandschaft, könnte wahrscheinlich, wenn man wollte, mitsingen, vielleicht tun das auch andere Besucher, aber wer weiß schon, wer hier Teilnehmer ist und wer Rezipient? Über allem schwebt Tino Sehgals genialer Künstlergeist, unsichtbar im wahrsten Sinne des Wortes und dennoch viel präsenter als bei vielen anderen documenta-Beiträgen. Er ist wie der groß angekündigte Ehrengast, der die Party nicht nur vorzeitig verlässt, sondern gar nicht erst kommt.

Ich weiß, dass ich mich hieran erinnern werde, wenn ich die Baktrischen Prinzessinnen und die betenden Motoren (Thomas who?) längst vergessen habe. Wo die Wahrnehmung kollabiert, wo die Grenzen zwischen Anwesenheit und Teilhabe aufs Vorbildlichste zusammenbrechen, mag man natürlich gerne wissen, was das Begleitbuch dazu zu sagen hat. Gespannt blättert man auf Seite 438. Blättert vor. Und zurück. Sieht noch mal im Inhaltsverzeichnis nach. Auf Seite 437 folgt 440. Tino Sehgal hat das Spiel verstanden.