Trag ich heute Rock? Heute trag ich Rock!

Die Presse trägt Minirock. So würde die Schlagzeile meines Tages lauten, wenn Tage Schlagzeilen hätten. Am Anfang dieses Tages steht das wie immer praktisch nicht zu bewältigende Problem des Zeitmanagements, welches mal mehr, mal weniger dringlich erscheint; heute ist es akut. Weil ich nicht gerade ein alter Hase bin, was Pressekonferenzen, kurz PK, betrifft, will ich mich nicht auf die durch jahrelange Uni-Sozialisation durch und durch verinnerlichte akademische Viertelstunde, kurz CT, verlassen. Unter dieser Sozialisation leiden – und dafür möchte ich mich hier mal total unironisch entschuldigen – viele Personen in meinem näheren und weiteren Umfeld. Wobei ich da dem Bonmot „Pünktlichkeit ist die Kunst abzuschätzen, um wie viel sich der andere verspäten wird“ grundsätzlich zustimme und außerdem so kluge Menschen zu meinen Freunden zähle, die, um nicht warten zu müssen, unsere Treffen einfach immer fünfzehn bis zwanzig Minuten früher ansetzen. Wenn das Treffen jedoch besagte PK ist und das Gegenüber ein landesweiter Fernsehkanal, greifen solche Flapsigkeiten nicht mehr. Bis ich also keuchend, schwitzend in einem mir unbekannten Teil der Stadt ankomme, werden meine Gedanken in Beschlag genommen von der Frage: Schaffe ich es, pünktlich zu sein? Spätestens beim Passieren der Sicherheitszone jedoch, die so gar nicht nach Sicherheit aussieht, sondern lediglich flankiert wird von einem Securitymensch im dunklen Anzug, der freundlicher wirkt als die meisten seiner Kollegen bei ZARA, ertappe ich mich beim Zurechtzupfen meines Rocks.

Was zuvor geschah: Während die Minutenanzeige der BVG-App, die angibt, wann ich spätestens los gehen muss, um meine Verbindung zu kriegen, bereits rot ist, spielt sich das übliche Theater der Kleidungsfrage ab. Möglicherweise säge ich am eigenen Ast, wenn ich zugebe, dass täglich aufs Neue eine gebührend lange Zeit für Fragen dieser Art draufgeht: Welcher Rock passt zur lachsfarbenen Seidenbluse (keiner)? Müssen die Socken, die aus den grauen Halbschuhen rausschauen, schwarz sein? Gehen auch Feinstrümpfe? Warum ist der Parka in der Wäsche? Und der Blazer in der Reinigung? Und kann man Nikes zur Skinnyjeans tragen, ohne wie eine stillose 15-jährige mit Strähnchen im Haar auszusehen? Solche Probleme gehören nämlich nicht in das mentale Repertoire einer Frau, die sich über Horoskope in sogenannten Frauenzeitschriften erhaben fühlt. Eine Frau, die für voll genommen werden will, darf gut aussehen, geschmackvolles Make-Up tragen und eine Designerhandtasche. Wehe aber, sie gibt zu, noch zehn weitere davon zu Hause zu haben oder, schlimmer noch, für ihr Aussehen heute morgen mehr Zeit als mit Frühstücken verbracht zu haben.

Als reflektierter Mensch, für den ich mich halte, beschäftige ich mich mit diesen Fragen nicht zum ersten Mal. Seit kurzem aber wohnt ihnen eine nie dagewesene Dringlichkeit inne. War bislang die Straße der Laufsteg oder der Supermarkt oder der abgeranzte Club, so ist es jetzt der Arbeitsplatz. Der Arbeitsplatz! Am Unterschied des Dresscodes offenbart sich die Kluft zwischen Uni und Job in aller Deutlichkeit. Erstere ist ein Biotop von Subkulturen, zumindest, was die geisteswissenschaftlichen Institute der FU Berlin betrifft. Bodenlange Ledermäntel, kahl rasierte Männerköpfe, in deren Nacken ein lustiger Pferdeschwanz wippt, T-Shirts mit politisch fragwürdigen oder einfach nur lächerlichen Aussagen („Zahme Vögel singen von Freiheit. Freie Vögel fliegen“): Mich schockt so schnell nichts mehr. Ähnlich wie mit der Anwesenheitspflicht verhält es sich eben auch mit der universitären Kleiderordnung: Es gibt keine. Plötzlich aber verlässt man das Planschbecken Hochschule und wird ins eiskalte Wasser Leben geschmissen. Selbst, wer nicht in einer Unternehmensberatung arbeitet, sollte sich spätestens jetzt mal Gedanken machen über angemessene Kleidung. Stopp: Was heißt angemessen? Als VWL-Studium-Absolventin wüsste ich immerhin, dass Jeans in meiner Branche tabu sind und die Handtasche zu den Schuhen passen muss, so wie klar ist, dass der Bankberater Krawatte trägt. Was aber, wenn man was mit Medien macht, sich also in einer Branche bewegt, die einerseits zeitgeistig wirkt, andererseits aber logischerweise genauso von sozialen Codes strukturiert ist wie jede andere auch?

Heute, am ersten wirklich warmen Tag des Jahres konnte ich meine Begeisterung über den Sommer, der jetzt so übergangslos den halbjährigen Winter ablöst, nur mit einem Minirock ausdrücken. Es handelt sich dabei um ein ursprünglich eine Handbreit über dem Knie sitzendes Modell von Urban Outfitters, olivgrün, schwer zu bügeln, mit großer Schleife vorne (ich liebe Schleifen). Unerklärlicherweise sitzt er heute noch eine Handbreit weiter oben, ist also entweder beim Waschen eingegangen oder aber der Umfang meiner Taille hat sich geändert, ein Umstand mit dem ich so früh morgens nicht konfrontiert werden möchte. Am Ende des Umziehmarathons trage ich immer noch diesen Rock. Und plötzlich lautet die Frage: Wie kurz darf der Rock sein?

Wie brisant diese Frage ist, merke ich erst jetzt, wo es mal wirklich drauf ankommt, in diesem mir unbekannten Teil der Stadt, im Gebäude der Landesvertretung, und ich gerate regelrecht in Panik. Ein oberflächlicher Blick in den Konferenzraum genügt nämlich, um zu wissen, dass ich meterweit an der zulässigen Kleiderfrage vorbeigeschrammt bin. Die anwesenden Herren signalisieren wahlweise Seriosität (Anzug, randlose Brille, bei genauerem Hinsehen: Ordentlich geführtes Notizbuch aus Leder) oder Juvenilität (Jeans, Sneakers, Karohemd); die Damen tragen fast ausnahmslos Hosen und nichtssagende Oberteile, versprengt ein paar Röcke, kein Kleid. Die Röcke der rocktragenden Damen bedecken das Knie und wenn nicht, sind sie wenigstens mit einer blickdichten Strumpfhose entschärft. Entschärft? Heißt das im Umkehrschluss, dass mein Rock scharf ist? Jeder weitere Schritt vom Eingang des Konferenzraums in diesen hinein ist ein Tanz auf dem Vulkan. Ich weiß nicht, wohin mit mir im wahrsten Sinn des Wortes, weil fast alle Plätze besetzt sind und es vielleicht eine Sitzordnung gibt, von der ich nichts weiß. Als ich von einer jungen Frau platziert werde und also dann doch sitze, steht die Kaffeekanne außer Reichweite und es kostet mich viel Überwindung, den Herrn rechts neben mir zu bitten, sie mir zu reichen und als ich mich, weil ich mich nicht traue, auch noch nach dem Orangensaft zu fragen, an den Herrn zu meiner Linken wende, zupfe ich schon wieder an meinem Rock herum und versuche, so weit auf dem Stuhl nach vorne zu rutschen, dass niemand meine lediglich von einer Feinstrumpfhose bedeckten Beine sieht und dabei muss ich natürlich die ganze Zeit auf meinen Gesichtsausdruck achten, der irgendwo zwischen kritisch und routiniert und gelangweilt changieren muss und noch dazu aufpassen, dass keiner meiner Nebensitzer auf meine Notizen schauen kann, weil ich mir bei einigen der Namen, die jetzt fallen, nicht sicher bin, wie man sie schreibt – weil natürlich niemand hier bemerken darf, wie absolut unbedarft und ohne Vorwissen ich hier hereingestolpert bin. Zwischendurch versuche ich, die drei Minuten Ziehzeit des Schwarztees abzuschätzen. Ich fühle mich wie ein weiblicher Felix Krull oder eine, deren Rock zu kurz ist.

Vor allem aber fühle ich mich wie eine, deren Rocklänge ihre Defizite überspielen soll. Denn mit der Kleidung ist es wie mit der Kommunikation: Es ist unmöglich, keine Aussage zu treffen. Meine Aussage heute morgen war: Es ist Sommer. Ich will das weiße T-Shirt mit den bunten Steinen anziehen. Hose hab ich gestern getragen, also heute Rock. Farblich passt der Olivgrüne am Besten. Vielleicht denken aber alle anderen im Raum, ich wolle ihre Aufmerksamkeit weg von meiner Person als kritischer Journalistin hin zu meinen Beinen lenken. Vielleicht hebt jede der anwesenden Frauen innerlich die linke Augenbraue und murmelt „soso“ und vielleicht fühlt sich jeder der anwesenden Männer wie Brüderle, ertappt, aufs Mannsein festgelegt und schaut deswegen extra nicht hin, was wiederum dazu führen könnte, dass dieses Extra-nicht-Hinschauen als solches erkannt und bewertet wird.

In schönster Dialektik ließe sich jetzt die Frage stellen, was zuerst da war: Der Wunsch, einen kurzen Rock zu tragen oder die Gesellschaft, die das Tragen eines kurzen Rocks symbolisch markiert? Für Ultrafeministinnen wäre die Sache klar: Nicht ich bin es, die entscheidet, einen kurzen Rock zu tragen, vielmehr assoziiert die Gesellschaft – oder schlimmer noch: das Patriarchat! – mit diesem sexuelle Verfügbarkeit und freut sich insgeheim (wenn sich eine Gesellschaft denn freuen kann), wenn ihre weiblichen Mitglieder dem Begehren der Männer entsprechen und sich dabei auch noch emanzipiert vorkommen. Ich kann diese Argumentation in Ansätzen nachvollziehen, bestehe aber darauf, an warmen Sommertagen einen kurzen Rock zu tragen und zwar aus Gründen der Praktikabilität und der Ästhetik. Warum ziehen sich mache für den Playboy aus? Warum rasieren sich Frauen ohne Partner die Beine? Möglicherweise: Für sich selbst. Ich jedenfalls trage heute diesen Rock, weil ich ihn gerne tragen will.

Ich glaube niemandem, der behauptet, er habe seine Kleidung nicht mit Bedacht gewählt. So, wie ich den Typ schräg gegenüber nicht nach seinem schlecht sitzenden Jackett oder dem schrillen Muster seiner Krawatte beurteile, will ich nicht auf die Länge meines Rocks reduziert werden. Ebenso wenig möchte ich als oberflächlich gelten, weil ich mein Geld gerne für Schuhe und Handtaschen ausgebe und mich manchmal mehrmals umziehe, bevor ich das Haus verlasse.

Was also tun im vollen Konferenzraum mit dem stetig nach oben rutschenden Rock? Haltung bewahren. Es gibt einen Film, der heißt „La journée de la jupe“, zu Deutsch „Heute trag ich Rock.“ Es geht darin um eine Lehrerin an einer sogenannten Brennpunktschule, deren Schüler ihr auf der Nase herumtanzen, weil sie schlecht erzogen und von den Medien verdorben sind. Täglich scheitert die Lehrerin am Anspruch, in ihrer Doppelfunktion als Autoritätsperson und als Frau ernst genommen zu werden, trotzdem sie Röcke trägt und Schuhe mit Absatz. Als sie die Waffe eines Schülers konfisziert, rächt sie sich. Das alles ist sehr lustig und natürlich arg überspitzt und doch: In diesem Film geht es auch um Selbstermächtigung.