Hamburg, meine Perle?

Es gibt die Retortenstädte, die Reichenghettos, die stadtplanerischen Totalausfälle. Und es gibt die Hamburger Hafencity. Mitten in der Stadt, direkt am Wasser stampft sich ein neuer Stadtteil selbst aus dem Boden. Seit siebzehn Jahren wird geplant, seit dreizehn Jahren gebaut, mindestens zehn weitere werden vergehen “von der Idee zur Wirklichkeit.” Es soll, so heißt es, auch sozialer Wohnraum entstehen.

In der Welt am Sonntag bescheinigt der Architekturkritiker Rainer Haubrich diesem auf ein Vierteljahrhundert angelegten Großprojekt eine recht frohe Zukunft. An einem “windigen, aber sonnigen Wochentag im März” traf er auf ein “bemerkenswertes, ganz selbstverständliches Treiben – besonders während der Mittagszeit.” Entzückt registriert er die hohe Carsharing-Wagen-Dichte, all die “auf Bänken und Vorsprüngen sitzenden Menschen”, den Kinderlärm. Nun ja. Das ist in etwa das Gegenteil meines Eindrucks. Waren Herr Haubrich und ich am selben Ort?

Mein erster Besuch der Hafencity erfolgt im Zuge des Hamburger Touristenpflichtprogramms, das man für Kurzzeitbesuche abspult. In leichter Variation umfasst es die immer gleichen Eckpunkte Fischmarkt – Fischbrötchen – Michel – Elbtunnel – Reeperbahn. Es ist März und ein bitterkalter Wind fährt durch die Häuserschluchten, Hamburger Wetter at it’s best. In München sitzen sie jetzt mit Aperol Spritz in der Sonne. Bereits auf den ersten Metern des Überseeboulevards missfällt mir das architektonische Grundmotiv der Hafencity. Offenbar galt die Richtlinie “Wiedererkennung vermeiden.” Runde Ecken, verschiedene Grautöne, so, wie man sich in den 70er Jahren das dritte Jahrtausend vorstellte. Ein nach Marco Polo benanntes Gebäude sieht aus wie ein Atompilz, der sich für keine Richtung entscheiden kann. Wohnungen nach dem Schuhkartonprinzip rufen noch einmal überdeutlich die Vorzüge von Altbauten in Erinnerung. Ihre ausgesuchte Hässlichkeit verteidigen sie mit Überwachungskameras, vielleicht Haustürschlössern mit Fingerabdruckscan. Goldene Käfige sind das, die Gitterstäbe mit Sichtschtutzfolien verhangen. Trutzburgen gegen das Proletariat. Anderswo fliegen Klobürsten.

Der Spaziergänger ist ein Exot. Bürgersteige, Zebrastreifen, alles da, aber niemand, der sie benutzt. Rainer Haubrichs Beobachtung “Busse machen Halt” kann ich nur teilweise zustimmen. Ja, sie fahren nicht an den Haltestellen vorbei, aber es sind seltene Besuche. Im Abstand von 300 Metern stehen Bushaltestellen, die im 20-Minuten-Takt frequentiert werden. Autos sehe ich im Gegensatz zum Architekturkritiker (“reger Verkehr”) auch nur vereinzelt, genau genommen sehe ich nichts, was sich bewegt, weder Mensch, noch Tier, noch Maschine. Höchstens die Abreißzettel, auf denen Haushaltshilfen aus dem europäischen Ausland ihre Dienste anbieten, künden von menschlicher Existenz. Unterwegs bemerkt eine Reiterstiefelträgerin mit nordischem Understatement: “Wirklich schön ist es hier ja nicht.”

Natürlich bleibt nichts dem Zufall überlassen, die Straßen folgen einem Rastersystem. Dies ist Deutschland, alles hat seine Ordnung. Infotafeln weisen den Weg zum nächsten Dat Bakhus, zu EDEKA und “City Farming Bio Service.” In unmittelbarer Nähe befindet sich das Dove-Spa und das Miniaturwunderland, für manche Leute ausreichender Grund, um nach Hamburg zu fahren. Ferner lockt das Hamburg Dungeon, eine als Geisterbahn getarnte Beschäftigungsmaßnahme für arbeitslose Schauspieler. Die drei Punkte in “Hafen City Tabak … und mehr” reizen meine Neugier nur bedingt.

Es ist 15 Uhr. Ich habe Hunger. Die rund vierzig Punkte umfassende Gastronomieliste auf der Infotafel macht keine Lust, irgendeinen dieser Orte zu besuchen. Ich esse meinen mitgebrachten Apfel. Während ich esse, komme ich an zwei Campus Suite-Filialen vorbei, eine anderswo weitgehend unbekannte Coffeeshopkette, die mit dem Slogan “Dein Körper dankt” wirbt und allen anderen Coffeeshopketten an Sterilität weit voraus ist. Mehrere Restaurants der gehobenen Preisklasse säumen meinen Weg zwischen Shanghaiallee und Osakaallee, der Großteil, wie die Straßennahmen vermuten lassen, der asiatischen Fusionsküche zuzuordnen (“C’asia Bistro”, “Eurasia Style”, “Sala Thai”). Viele haben eine Terrasse zum Wasser hin. Alle haben geschlossen.

Und dann die Elbphilharmonie, dieser Turmbau zu Babel, dieses Lehrstück des menschlichen Wahns. 2017 ist sie fertig, heißt es. Kühn ragt im Jahr 2014 der Baukran in die Luft. So sorgfältig ich auch Ausschau halte, ich sehe keine emsigen Bauarbeiter. Vielleicht machen sie Mittagspause, sind anzutreffen beim Wurstbrötchen Fassen in einer umliegenden Metzgerei? Reingefallen, es gibt keine umliegenden Metzgereien. Mittwochs steht der Betrieb still. Einzig die Touristen balgen um den besten Standpunkt für ihr Elbphilharmonie-Selfie. Ob sie kommen, um dem städtebaulichen Irrsinn ins Gesicht zu lachen oder aus architektonischem Interesse?

Tourismus, so lerne ich, ist ein Grundpfeiler des wackligen Tempels Hafencity. Die 90-minütige Führung über die Elbphilharmonie-Baustelle kostet regulär fünf Euro, drei Euro ermäßigt. Hat sich der Elendstourist (in Brasilien bieten sie Favelatouren an) am Elbphilharmonie-Gerippe ergötzt, begebe er sich zum Elphilharmonie Pavillon. Die Außenwand dieses Betonklotzes ist übersät mit Ausstülpungen, deformierten Megaphonen, aus denen jene Musik schallt, die dereinst Hamburgs Abonnentenpublikum beglücken soll. “Multi-Percussionist Martin Grubinger testet den Sound der Elbphilharmonie”, verrät das dazugehörige Infoschild, “es juckte ihn in den Schlägeln, als er die Baustelle besuchte. Bei ‘Kaiserwetter’ hatte er sichtlich Spaß bei der Erkundung des Projekts.” Es wäre nicht nötig gewesen, den einen Raum, aus dem der Pavillon besteht, zu bewachen, denn er ist leer, abgesehen von einem Tisch mit Broschüren und einer Stellwand mit Elbphilharmonie-Schlüsselanhängern (drei Euro das Stück). Seine Smartphonetätigkeit unterbricht der Mann, der wohl doch eine Art Aufseher ist, um mir flugs die mittlere von drei Broschüren zu empfehlen und dann sich selbst. Er duzt mich, in Hamburg ist das nicht üblich. So unklar die Funktion dieses Pavillons bleibt, der das Provisorium eines Provisoriums ist, so egal ist die Überlegung, wie viel das wohl gekostet hat: ein haarnadelfeiner Riss im Eisberg der Hafencity, dessen Spitze die Elbphilharmonie bildet.

Und wie ich so wandelte unter finsterstem Hamburger Nachmittagshimmel, überkam mich eine große Leere. Ein Gefühl von Vergeblichkeit, Belanglosigkeit biblischen Ausmaßes (der Turmbau!). Der Mensch, der versucht, das Wasser zu bebauen und scheitern muss. Der Mensch, der gegen seine Endlichkeit und die Wasserspinnen (angeblich ein ernstzunehmendes Problem) betoniert.

Der Ethnologe Marc Augé versteht Flughäfen, Shopping Malls, Hotelketten als “Nicht-Orte.” Diese seien keine “anthropologischen Orte”: “Man ist nicht heimisch in ihnen, sondern es sind ‘Orte des Ortlosen’ und gewissermaßen das Gegenteil von ‘Erinnerungsorten.’ Diese Räume stiften keine individuelle Identität, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine sozialen Beziehungen. Sie sind Zeichen kollektiven Identitätsverlusts.” Während der Aufenthalt an Flughäfen und Malls zeitlich beschränkt ist, soll die Hafencity, und das ist das Ungeheuerliche daran, ein Ort zum Bleiben sein. Ein postmoderner Kiez, ein Dorf in der Stadt, das alles bietet, was seine Bewohner brauchen.

Vielleicht ist die Hafencity aber auch die Stadt der Zukunft und zwar nicht nur in ihrer realen Präsenz, sondern ihrem ideologischen Überbau: bereinigt vom imperfekten Humanfaktor. Dass keine Strohballen durch die Straßen rollen liegt ja nur daran, dass diese Straßen so klinisch rein sind. Beim Anblick der ausgestorbenen Ladenflächen fällt mir der Prada-Shop des Künstlerduos Elmgreen/Dragset ein, eine Spottfigur der Konsumkultur mitten in der texanischen Wüste. So wie dieser Shop ein Irrlicht der Zwecklosigkeit ist, verweisen auch die Einzelhandelflächen in der Hafencity lediglich auf sich selbst. Keine Kundschaft im Souvenirhandel “Atelier Zippel”, bei “Witty Knitters” sind alle Umkleidekabinen frei. “GuteJacke.de” macht seinen Umsatz wahrscheinlich im Internet. Im Schaufenster des Optikers kündet ein Schild: “Tschüss Hafencity! Wir gehen von Bord. Räumungsverkauf, bis zu 70 % Rabatt.” Die Saftbar sucht einen Nachmieter, gegenbenenfalls kann das Inventar übernommen werden.

Aber gut, ich bin unstet, ich kann mich täuschen und bekannterweise steht und fällt die Laune mit dem Wetter. Fairerweise fahre ich also ein zweites Mal in die Hafen City, obwohl ich mich vorm erneuten Stimmungstief fürchte. An diesem Tag tanzt Frühlingsstaub im Gegenlicht, die Wasseroberflächen glitzern, es sind fast 20°. Dem Kaiserwetter zum Trotz halten sich wenige Menschen im Freien aus. Die Gefahr des Berliner Schlendrians, wo der Eindruck entsteht, alle hätten immer Urlaub, besteht hier nicht. Ein Arbeitsethos nordischen Typs liegt in der Luft, daran ändern auch die poppigen Sonnenliegen in der Strandbar nichts. Vom Kaiserkai aus hat man einen schönen Blick auf den unverbauten Teil des Hafens. Bei entsprechender Kopfbewegung trübt nicht einmal das Marco-Polo-Haus die Ästhetik. “Miss Sofie” verkauft Softeis in den Geschmacksrichtungen “Bruce”, “Naomi” und “Helena.” Das Champagnersorbet wartet auf Abnehmer. Auf der Haegen-Dasz-Terrasse trinken sie Aperol Spritz.