Glück im Unglück – Schwein gehabt

Mit Doris Dörrie verbinde ich früheste Kindheitserinnerungen. Mit sieben, acht Jahren gelangte das Buch “Lotte will Prinzessin sein” in meinen Besitz. Es handelte von einem Mädchen, Lotte, das, wie der Titel schon sagt, Prinzessin sein will. (Kennt jemand diese T-Shirts mit dem Aufdruck: „Aber Mami hat doch gesagt, heute bin ich die Prinzessin“? Auch super.) Lotte hat nach dem Aufstehen die Idee, heute mal fashionmäßig was zu wageb und weigert sich vehement, das Faschingskostüm inklusive Papierkrönchen auszuziehen, obwohl keine Faschingszeit ist. Ihre arme Mama, die ohnehin so furchtbar gestresst ist zwischen Frühstücksbrot und Zähneputzen und sich-selber-für-die-Arbeit-fertigmachen (welch hintersinniger Kommentar zum prekären Verhältnis von Frauen in Doppelbelastung!) gibt schließlich nach. Und nicht nur das: Aus einer aus Erwachsenenperspektive kaum nachvollziehbaren Übermütigkeit heraus zaubert auch die Mama ein Prinzessinenkleid aus ihrem Schrank hervor. Auf der letzten Seite des Buchs sah man Mutter und Tochter glitzernd und funkelnd in der Straßenbahn fahrend. Wunderbarerweise lag dem Bilderbuch genau solch eine goldene Papierkrone bei, wie sie Lotte trägt. Auch aus genderkritischer Sicht kein Problem, weil man muss ja auch als Mädchen mal über die Stränge schlagen, ob im Glitzerfummel oder mit Bauarbeiterhelm, das ist doch wurscht (ich stelle mir vor, dass Lotte auch ein Ritterkostüm in petto hat). Kurzum: Ich habe dieses Buch geliebt. Also auch Doris Dörrie.

Einige Zeit später erst habe ich entdeckt, was Doris Dörrie sonst so macht. Filme zum Beispiel. „Nackt“ hieß eine Komödie aus dem Jahr 2002. Drei befreundete Pärchen (Was für ein Ensemble: Heike Makatsch, Benno Fürmann, Alexandra Maria Lara, Jürgen Vogel, Nina Hoss, Mehmet Kurtuluş!) verbringen einen gemeinsamen Abend, erst furchtbar prätentiös-entspannt, dann furchtbar anstrengend. Natürlich eskaliert die fragile Reihenhauswelt im Berliner Umland (wobei, zu so einem feinen Reihenhaus mit Garten im Wohnzimmer sage ich auch nicht nein, ein wirklich schönes Reihenhaus!) und natürlich sind mitunter alle nackt. Großartiger Film. Sechs Jahre später dann der gleichfalls bravouröse “Kirschblüten – Hanami”: Albern, verwegen, abstrus und doch sehr ehrlich. Ein liebender Ehemann, der seiner Frau posthum ihren letzten Wunsch erweist, eine Reise nach Japan zum Kirschblütenfest. Posthum heißt also: Er fliegt mit der Leiche nach Tokio, mietet ein Doppelzimmer und der Himmel hängt voll rosaroter Blüten. “Der Fischer und seine Frau” steht noch auf der to-watch-Liste, schon wegen Christian Ulmen. Kurzum: Die Einwände zahlreicher Kritiker, Dörrie mache überdrehtes, im schlimmsten Fall hysterisches Frauenkino (okay, das steht so nirgends, aber ich fasse mal alles Gelesene großzügig zusammen), konnte ich so nicht teilen. Bis jetzt.

Doris Dörries neueste Regiearbeit heißt „Glück”, hatte Premiere bei der diesjährigen Berlinale und beginnt so furchtbar, so grausam, wie ein Film nur beginnen kann. Irina hat ein gutes Leben: Gemeinsam mit ihren sanftmütigen Eltern lebt sie in einem Haus am See, es ist Frühling, auf dem Tisch stehen selbstgebackenes Brot und Milch von glücklichen Kühen und auf die Tischdecke hat Irinas Mama kleine Lämmchen gestickt. Urplötzlich tauchen Soldaten auf, töten die Eltern und, ich vermute auch die glücklichen Kühe und vergewaltigen Irina auf dem Küchentisch. Bei ihrem anschließenden slow-motion-Bad im See – stumm schreiend, die Hände ringend – möchte man mitweinen, so entsetzlich präsent ist das Leid. Zwei Einstellungen später steht Irina auf dem Potsdamer Platz und weder weiß man, wie sie dorthin kam (na gut, sie wird mit dem Zug gefahren sein oder per Anhalter), noch, was mir wichtiger erscheint, was hinter dem Überfall der Soldaten steckt, sprich, welchen Bürgerkrieges Opfer sie wurde.

Auf dem Straßenstrich der Kurfürstenstraße verkauft Irina fortan ihren Körper und die griesgrämige Berliner Schnauze hinter der Rezeption des Abwrackhotels, in dem sie ein Zimmer mietet, ist fast so unsympathisch wie die Freier davor. Nicht mal die “Berliner Zeitung” ist im Zimmerpreis inbegriffen! Nach ihren Schichten weint Irina auf dem Abwrackbett und wenn die “Tagesschau” Kriegsbilder sendet, überkommen sie post-traumatische Belastungssymptome. Der seelische Schmerz lässt sich  nur durch den körperlichen lindern, durch Stecknadeln, die Irina sich in den Oberschenkel rammt. Bis, ja bis das Glück seine Protagonistin findet: in Gestalt des Straßenpunks Kalle und seinem Geheimnis vom „Wuppdiwupp“, womit er den Moment meint, wo die Schaukel auf dem höchsten Punkt ganz kurz stehenbleibt und die Welt sich aufhört zu drehen usw. Ja, es wird viel geschaukelt in diesem Film.

“Wuppdiwupp” haben Irina und Kalle eine gar nicht mal kleine Wohnung, wobei wieder nicht klar ist, wer die bezahlt, denn bisher reichte es ja gerade für das Ranzhotel und Kalle geht über weite Teile des Films überhaupt nicht arbeiten, weil das nicht mit seiner kapitalismuskritischen Gesinnung zu vereinbaren ist, das Anschaffen seiner Freundin offensichtlich schon. Immer mal wieder muss “das Glück” durch kleine Reiberein gestört werden, aber immer wieder klopft es wieder an die Tür, “das Glück.” In den letzten zwanzig Minuten schießt Dörrie dann dermaßen übers Ziel hinaus, indem sie eine zweite Splatterebene über die Handlung legt: Einer von Irinas Stammkunden, ein „fettes Schwein“, erleidet bei der Penetration a tergo einen Herzinfarkt. Ja wirklich, er bzw. es stirbt und fällt auf das kleine Frauchen unter ihm, dass dieses beinahe erstickt. Irina, verständlicherweise emotional aufgewühlt, läuft aus der Wohnung, zum Kinderspielplatz. Kalle, als er nach Hause kommt, findet den Fleischklops, zögert, überlegt und holt dann den elektrischen Geflügelzerteiler aus der Küchenschublade und zerteilt die Leiche in Portionen, klein genug für die Müllbeutel, die er stark schwitzend bei KAISERS um die Ecke gekauft hat. Man muss noch erwähnen, dass Kalle Vegetarier ist und dieser Geflügelzerteiler bisher ein trauriges Dasein in der Küchenschublade fristete. Den Gänsebraten, den Irina für seinen Geburtstag zubereitet, findet er so schauerlich, dass er quiekend wie ein Comicmädchen beim Anblick einer Maus davon hüpft. Wenn es drauf ankommt ist Kalle aber ein echter Kerl und ganz nebenbei besiegt er im Moment des radikalen Freier-Zerteilens seine Fleischphobie. Nicht genug des Wahnsinns, fährt er die einzelnen Teile anschließend mit dem Fahrradanhänger (!) zum Spielplatz, um sie da zu vergraben. Blutspuren säumen das Treppenhaus. Erstaunlich schnell wickelt Dörrie dann pro forma den Rest der Geschichte ab: Gefängnis für Kalle, drohende Abschiebung für Irina, ein Rechtsanwalt, der seine Staatsanwältin im Biocafé (!) bei einem Glas Chai Latte mit Sojamilch überredet, die Anklage fallenzulassen, denn siehe: Das ist wahre Liebe. Da sag ich mal: Schwein gehabt, dass unser Rechtssystem nicht nach den Regeln von Doris Dörrie spielt.

Vorlage des Films war eine Kurzgeschichte des Rechtsanwalts (!) Schrägstrich Literaten Ferdinand von Schirach. Nach einer wahren Begebenheit! Als ich das las, dachte ich: Jetzt wundert mich nichts mehr. Spielt das Rechtssystem etwa nach den Regeln von Ferdinand von Schirach? Schade, denn die Geschichte hat Startkapital, überrascht mit schönen Momenten – etwas, wenn das Paar sich rosa Tüten über den Kopf zieht, als Pendant zur rosa Brille –und, weil wir wissen: Frau Dörrie kann es besser.

Es ist mit diesem Film wie mit journalistischen Floskeln. Die sind ja unbedingt zu vermeiden! Manchmal aber kommt das zu Beschreibende so dämlich, so unrettbar abgeschmackt daher, dass einem gar nichts anderes übrigbleibt. Eine Lösung kann eine Floskel-Kasse sein, das soll es wirklich geben in manchen Redaktionen. Wenn aber eine an sich große Regisseurin wie Doris Dörrie so ungeniert mit Abgegriffenheiten um sich wirft, dann ist es nur logisch, eine Kritik von “Glück” mit einem Satz wie diesem zu überschreiben: Glück im Unglück! Weil Irina und Kalle ja doch noch zusammenfinden, mehr noch, weil sie am Ende des Films heiraten müssen, sonst wird Irina zurück in ihr Heimatland (dessen Namen wir auch jetzt nicht kennen). Die Beiden ersparen sich also eine knifflige Frage und verliebt sind sie ja auch wie Sau (hah!). Und “Glück” heißt ja auch der Film, also passt voll (hah!). “Schwein gehabt” wollen wir auch noch in den Titel packen, weil der tote Freier ja große Ähnlichkeit mit einem Schwein hat, besonders dann, wenn er die Treppen zu Irinas Wohnung raufkeucht und auch, wenn er sich oral befriedigen lässt (Für den Fall, dass diese Assoziation nicht gleich im Zuschauerkopf aufploppt, verbalisiert Irina das Gesehene noch mal, indem sie sagt: „Er ist wie ein Schwein. Ein dickes Schwein!“).

Noch gibt es keine Floskelkasse, virtuell sowieso nicht, deshalb zum Schluss noch ein Sprüchlein aus meinem Poesiealbum, das sich in der Schlossgarten-Grundschule dereinst großer Beliebtheit erfreute: „Das Glück ist wie ein Omnibus, auf den man lange warten muss und kommt er endlich angewetzt, dann ruft der Fahrer: Schon besetzt!“ Wenn Doris Dörrie am Steuer sitzt, warte ich gerne auf den Nächsten.