Frühling im Spätherbst in bömischen Dörfern

Neulich, morgens halb zehn in der Hauptstadt: Ein Pärchen im rüstigen Alter promeniert die Stralauer Alee entlang. Sie, Dauerwelle, Pelz (fake, vermute ich), strenges Minenspiel, schreitet mit energischen Schritten voran, gut zehn Meter vor ihrem Ehemann (ebenfalls reine Vermutung), Schnauzer, Übergangsjacke in unscheinbarstem Altherren-Grau, verschreckter Gesichtsausdruck, eine Handtasche (Vermutung: Ihre!) eng an den Oberkörper gepresst. Was für ein absurdes Bild die Beiden abgeben! Mit einem Schmunzeln malt man sich im Geiste die Verhältnisse aus, die in diesem Haushalt herrschen mögen. Vermutlich artet jeder Streit um den Abwasch zum Krieg aus.

Liebe im Alter, ein filmreifer Stoff, jedenfalls der Anzahl an Produktionen nach zu urteilen, die sich mit diesem Thema befassen. Man denke an Wolke 9, einen mit diversen Preisen geadelten Streifen, der sich “mutig” (macht sich auf der DVD Verpackung immer gut) für eine Rehabilitierung der Leidenschaft jenseits der Generation mittelalt einsetzt. Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn ich habe ihn nicht gesehen und bevor dies mit Youtube-Trailer-Halbwissen gekonnt überspielt wird, gehe ich besser weiter zu einem Beispiel, das nicht kompromisslos, genau genommen nämlich nur zur Hälfte dem besprochenen Genre zuzuordnen ist: Harold und Maude, einer der wenigen Filme, die mich schon beim ersten Mal anschauen zum Weinen gebracht haben (Oder gerade dann? Steigt das Tränen-Potential eines Filmes mit der seriellen Aneignung?). Zur Hälfte deswegen, weil Harold minderjährig ist, sich unsterblich in Maude verliebt, eine Dame im sogenannten besten Alter. Die Liebe im Alter, hier steht sie unter keinem guten Stern. Wobei der Film von Hal Ashby mehr Märchen ist als Ist-Zustand – oder gar Sozialstudie.

Mit einer solchen haben wir es bei Mit Verlust ist zu rechnen zu tun, einer Gemeinschaftsarbeit der österreichischen Regiewüteriche Ulrich Seidl und Michael Glawogger. Ein echter Geheimtipp, sind sowohl Regisseur Seidl als auch Glawogger, hier für das Drehbuch verantwortlich, doch für ihre kauzigen, mitunter sperrigen und eigentlich immer weit am Unterhaltungsanspruch vorbeizielenden semi-dokumentarischen Arbeiten bekannt. Glawoggers neuester Film Whore’s Glory ist da bestimmt keine Ausnahme (hier macht das Prädikat “mutig” gewiss Sinn), wobei ich mich auch hierzu noch nicht äußern möchte; steht auf meiner To Do- Liste aber ganz oben.  Slumming aus dem Jahr 2006 hat dagegen echte Spielfilmqualität, gerade zu wenig, um im Kino gezeigt zu werden, aber genau so viel, um austrophile Cineasten in höchste Verzückung zu versetzen. Wobei Glawogger dem Zuschauer bei Slumming insofern entgegenkommt, als dass der Film immerhin von so etwas wie einem Plot getragen wird, wenn auch – wie könnte es anders sein – einem sehr absurden.

Kontrastprogramm Wirklichkeit. In Mit Verlust ist zu rechnen begleitet das Duo Seidl/ Glawogger den Bauern Sepp Paur auf seiner Suche nach einer neuen Frau (die unfreiwillige Paralelle zum gleichnamigen RTL Format ist zweifellos nicht beabsichtigt). Noch zehrt Sepp von den portionsweise eingefrorenen Mahlzeiten seiner verstorbenen Gattin, doch der Winter naht, die Vorräte in der Tiefkühltruhe gehen zur Neige und der Protagonist wird sich seiner Unfähigkeit, selbst Hand anzulegen, schmerzlich bewusst. Da wir uns in einem kleinen Dorf an der tschechischen Grenze befinden, wo die Bauerin noch höchstpersönlich der Henne den Kopf abschlägt und überhaupt die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, versteht es sich von selbst, dass ein Mann wie Sepp hier keinen Kochkurs belegen, sondern sich pragmatisch auf die Suche nach einer neuen Frau machen wird. Paula Hutterová, ebenfalls verwitwet, wohnt mit ihren Schwestern im tschechischen Nachbardorf, und Sepps fernroher zufolge (!) lernen die Beiden sich kennen. Zunächst geht Paula auf die Avancen ein, wenn auch aus einer finanziellen Notsituation heraus. Das für den Zuschauer doch recht bescheiden wirkende Sortiment des österreichischen Supermarktes löst bei ihr euphorische Zustände aus  und auch als Sepp sie zum ersten mal bei sich zuhause empfängt, lobt sie jeden Teller, jede der anachronistischen Wanddekorationen und sogar die Kleidung von Sepps verstorbener Frau (sorgsam im Schlafzimmerschrank verstaut) förmlich in den Himmel. Doch all die materiellen Vorzüge können Paulas Zweifel über den bevorstehenden Verlust ihrer Unabhängigkeit nicht beseitigen. Zumal Baur ein ausgesprochen geiziger Zeitgenosse ist, für den eine Option wie das in diesem Unfeld sehr fortschrittlich anmutende „Essen auf Rädern“ nicht in Frage kommt.

Um dem dokumentarische Anspruch gerecht zu werden, bleibt die Kamera rein objektiv, sie folgt ihren Figuren, ohne zu werten. Man ahnt, dass die Geschichte den Regisseur gefunden hat, nicht er sie und dass wir es hier mit Laiendarstellern zu tun haben, die nichts weiter tun als ihr Leben zu führen. Das Ergebnis ist filmisches Material, dessen Wahrheitsgehalt jede andere denkbare Darstellungsform übersteigt.

Seinen Titel verdankt Mit Verlust ist zu rechnen der Aussage eines alten Mannes, der aus dem Autofenster heraus den Zustand seines Heimatortes beklagt. Weltschmerz auf Österreichisch – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn alle „Darsteller“ pflegen einen dermaßen starken Dialekt, dass dem hochdeutschen Zuschauer die Ohren klingeln. Untertitel wären angebracht, gerade weil die beiden Dörfer, die als Schauplätze der Sozio-Studie dienen, quasi auf tschechischem Boden liegen, eines zumindest. So fühlt man sich wie in den sprichwörtlichen böhmischen Dörfern – schade! Zu gerne würde man den Drei Schwestern im Detail folgen, wenn sie sich über die Ansprüche der Männer austauschen, die neben einer ordentlichen Mahlzeit und der korrekten Besorgung des Haushalts auch sexuelle Gefälligkeiten umfassen. Man muss lächeln über den Anblick dieses lebhaften Kaffeekränzchens, das wirkt wie das ergraute Pendant zu den Mädels von Sex and the City.

Das wirklich Überraschende an dieser Filmperle ist, dass jenes Fremdheitsgefühl, das sich zu Beginn angesichts der archaischen Zustände im Dorf einstellt, bald abgelöst wird von einer beinahe unheimlichen Vertrautheit. Obgleich die Protagonisten altersmäßig jenseits weit entfernt sind von der Mehrheit der Zuschauer (und der einsamkeitsgeplagten Singlegeneration, die üblicherweise das Personal in Filmen der Marke „Topf sucht Deckel“ stellt) und obgleich der Schauplatz des Geschehens wirkt, als hätte das zwanzigste Jahrhundert eben erst begonnen, sind die Gefühle, die Ängste und Zweifel, mit denen hier gerungen wird, die immergleichen. Bin ich schön, begehrenswert genug? Man wäre nicht überrascht, Paula Hutterová zu sehen, wie sie auf einer Wiese steht und Blüten abzählt: Er liebt mich, er liebt mich nicht… Sepp Paur hingegen sieht sich in der Pflicht, seiner Auserwählten etwas bieten zu müssen. Eine der rührendsten Szenen ist denn auch die, in der er seine Ehefrau in spe in die Stadt ausführt, wo sie sich im Kaufhaus ein Deo aussuchen darf, nur in Abstimmung mit ihm natürlich, denn riechen können, das muss man sich ja. Später vergnügen sich die Beiden auf der Kirmes, lachen im Spiegelkabinett über ihren eigenen, verzerrten Anblick und fahren Riesenrad. Man weiß nicht, wie oft einem die bedeutungsschwere Szenerie des Riesenrads insbesondere im deutschen Film schon begegnet ist, aber hier erzeugt sie ausnahmsweise eine soghafte Stimmung. Auch, weil Glawogger an dieser Stelle einen Schlager einspielt (der Film kommt weitgehend ohne Musik aus) und gekonnt die Bilder des fälschlicherweise verliebt wirkenden Pärchens mit der Stadt im Rücken mit denen von Paulas Schwester kombiniert, die eben diesem sehnsuchtsvollen Schlager auf ihrem Küchenradio lauscht und weint. Musik, so emotional sie auch sein mag, ist bei Seidl Material, nüchtern, weil er als Regisseur nicht über deren Verfügbarkeit entscheidet. Musik ist hier zugleich ungeheuer subjektiv und gewaltig, eben weil sie so sehr an die Darsteller gebunden ist. Ihren teilweise selbst vorgetragenen Liedern ist immer ein Sehnsuchtsmoment zu Eigen. Die Erinnerung, die die alte Frau vor ihrem Transistorradio überkommt: Man kennt sie nicht, aber man ahnt sie.

Mit Verlust ist zu rechnen löst das Versprechen des zweiten Frühlings nicht ein. Noch bevor das Paar sich wirklich kennenlernt, noch bevor der tatsächliche Frühling kommt, entscheiden sich Sepp und Paula gegen eine Hochzeit. Die simple Kosten-Nutzungsrechnung – weibliche Pflichten gegen finanzielle Sicherheit – geht nicht auf. Ein kleiner Gewinn für Paula, ein großer für die weibliche Selbstbestimmtheit? Im Stillen gibt man ihr Recht, Liebe geht anders. Sepp aber gibt nicht auf, tiefgefrorenes Essen vermehrt sich ja schließlich nicht von selbst. Ob seine Suche zeit seines Lebens erfolgreich war, darüber gibt der Film keine Auskunft.

Wie viel gemeinsam erlebte Zeit liegt wohl hinter dem Pärchen auf der Stralauer Allee? Haben sie sich eben erst kennen gelernt wie Sepp und Paula? Oder sich mit den Jahren aneinander gewöhnt? Der Umstand, dass er mit einer solchen Selbstverständlichkeit ihre Tasche trägt, ihr den Vortritt lässt und sie ihn so in ihrem Rücken weiß, lässt mich zu der Annahme kommen, dass sie nicht erst seit dem letzten Winter beisammen sind. Liebe im Alter, die gibts ganz bestimmt. Nur eine Vermutung.