Freunde mit gewissen Vorzügen

Ich frage mich ernstlich, ob es meinem Alter geschuldet ist, dass ich diese Welt als vollkommen schizophren empfinde. Füllten zu Zeiten des Wirtschaftswunders auch Geschlechterdebatten halbe Tageszeitungen? Kaum ein Jahr ist es her, da beschäftigten die “Schmerzensmänner” das halbe Land, es meldeten sich maulende Freundinnen, unverstandene Romantiker und überzeugte Chauvinisten zu Wort und zuletzt die Auslandskorrespondenten, die nicht verstehen konnten, was am Flirten so schwer sein soll, in Frankreich klappe es doch auch. Die Frauen beklagten damals, wenn ich mich recht erinnere, fehlende Männlichkeit. Die trat Anfang dieses Jahres auf den Plan in Gestalt eines Politikers einer sowieso irgendwie abgeschriebenen Partei. Das mit ihm auf ewig untrennbar verbundene Substantiv wird es möglicherweise zum Unwort des Jahres schaffen. So eine Männlichkeit will man halt auch nicht haben, gell.

Vieles spricht also dafür, dass die Geschlechter in der Krise stecken. Oder wie es das ZEIT Magazin formulierte: “Männer haben so viele Probleme. Das weiß ich aus dem Studium.” Dürfen Frauen den ersten Schritt machen? Darf ein Mann sich einen Vollbart wachsen lassen und trotzdem auf der Akustikgitarre Bon Iver mitschmachten? Mit Blick in die USA: Dürfen nicht-gleichgeschlechtliche Arbeitskollegen zusammen Aufzug fahren? Und wenn man schon eine so absurde Frage zu stellen wagt: Schon mal daran gedacht, dass auch homosexuelle Menschen so etwas wie eine Libido haben und es auch solche Art von Belästigung gibt? Warum haben Paare, die sich die Hausarbeit teilen, weniger Sex (hoppla, diese Meldung ging zwischen den ganzen #Aufschreien praktisch unter)? Angehörige meiner Generation sehnen sich mitunter nach klaren Strukturen wie zu Zeiten unserer Großeltern. Wobei man diese Gleichstellung heute schon gut findet, eigentlich. Kurzum: Es herrscht Chaos.

Halb aus Versehen hat Facebook eine Lösung parat. Die App “Bang with Friends” verrät Mitgliedern, wer von ihren Freunden gerne Sex mit ihnen hätte. Das Prinzip ist simpel: Erst wenn beide sich gegenseitig markieren (das Wort “liken” bekommt da eine ganz neue Bedeutung), kommt es zum sogenannten “match” und sie erfahren von der Attraktion des jeweils anderen. Peinlich und nervig sind ja schon die durch und durch nutzlosen Informationen, welcher Freund Instagramm nutzt, welches Lied auf Spotify hört oder mit welchem Spiel seine Zeit beim virtuellem Blumen gießen vertrödelt. Ein Hinweis wie “Markus Bauer hat vier Freunde bei ‘Bang with Friends’ markiert” hat da natürlich einen pikanteren Beigeschmack und könnte erst mal so etwas wie frischen Wind in den Neuigkeitenverlauf bringen. Aber noch bevor man anfängt, die eigene Freundesliste im Konjunktiv durchzugehen, kommt der gesunde Menschenverstand doch da zum Fazit: Geht’s noch? Erlöst “Bang with Friends” die Welt vom Fluch des oversexed and underfucked? Macht aus stumpfen Konsumenten selige User, die permanent in der post-koitalen Phase schwelgen, weil sie wissen, dass der nächste Treffer nur ein paar Klicks entfernt ist? Blind Dates, die erotische Dystopie der 90er, waren ein Witz dagegen.

Schon jetzt besorgt Facebook einen Großteil unserer Kommunikation, über den Facebook-Chat, die Facebook-Nachrichtenverläufe und die Facebook-Pinwand. Ohne Facebook wüsste ich nicht mal von der Hälfte der Parties, Flohmärkte, Ausverkäufe im Lieblingsshop. Schon vor “Bang with Friends” war das Netzwerk auch eine Plattform zum Flirten. Allein die Möglichkeit, Kommentare, noch besser Fotos des oder der Auserwählten zu liken, treibt die Sache manchmal um den entscheidenden Schritt voran. Besonders schüchternen Exemplaren Mensch wird schon die Last der ersten Kontaktaufnahme abgenommen: Früher musste man nach der Handynummer fragen, heute genügt der Blick in die Freundesliste eines gemeinsamen Bekannten, um die begehrte Person zu adden. Wer solche hints nicht versteht, dem kann nicht geholfen werden. Schon gar nicht von einer App, die eine so schöne, elementar das Menschsein definierende Sache wie die vorsichtige erste Annäherung maßregelt.

Fraglos kann dabei eine Menge schiefgehen. Das war schon bei Oma und Opa so und ziemlich sicher wird es nicht einfacher werden. In der App-internen Logik ist weder Platz für Sexismus noch für Belästigung: Antatschen und in den Ausschnitt gieren geht im virtuellen Raum natürlich nicht. Nicht einmal die rein verbale Annäherung – eine so simple Frage wie “Gehen wir Kaffee trinken?” – läuft Gefahr, missverstanden zu werden, denn ohne eindeutiges Wissen über die Intention des anderen gibt es keinen Kontakt. Ohne “match” nicht nur kein Sex, sondern wohl auch kein Date. Wollen wir aber nicht alle spielen? Wollen und müssen wir nicht immer wieder neu nachdenken, welche Art Frau, welche Art Mann wir sein wollen? “Bang with Friends” lässt ja auch keinen Platz für den sogenannten Diskurs, den die Gesellschaft offenbar braucht. Es ist die klinisch gesäuberte Variante des per se unsauberen, aber gerade dadurch verlockenden Spiel des zielgerichteten Begehrens. Vordergründig scheint die App auf wunderbar uneigentliche Weise die Irrungen der Geschlechterbeziehungen elegant zu umgehen, tatsächlich bringt sie uns nicht nur um das Nachdenken darüber, sondern auch um die Freude daran.

Nicht, dass die Kombination der Worte “Freunde” und “Sex” nicht schon früher existiert hätte. Damals hieß das “Friends with Benefits”, atmete den Charme des Frivolen und hatte nichts, aber auch gar nichts mit Facebook zu tun. Wir wollen nicht zurück in die Prä-Facebook-Ära. Wir wollen auch nicht so leben wie unsere Großeltern. Aber der Quasi-Totalität nachgeben und auch noch den aufregendsten Part unseres analogen Lebens an das soziale Netzwerk abtreten: Nein, danke.