Frau Obst lacht oder: ein Blick ins Maul des geschenkten Gauls

Es begab sich aber in der Weihnachtszeit, dass ich unverhofft zu einer neuen Brille kam. Dank geht an den Onlineshop Ace & Tate. Dessen Konzept ist so simpel wie vermeintlich genial: zum Einheitspreis von 98 Euro stehen etwa vierzig Modelle zur Auswahl. Im Kaufpreis enthalten sind die Gläser in der passenden Stärke, entspiegelt, kratzfest und egal wie kompliziert. Hornhautverkrümmung, unterschiedliche Brechungsverhältnisse der Augen, Diplopie, Presbyopie: Für blinde Hühner wie mich, an deren diversen Sehbehinderungen jeder Optiker-Azubi seine Freude hat, ist das ein mittelgroßer Coup.

Wie es sich für ein junges, aufstrebendes Unternehmen gehört, poppt rechtzeitig zur Adventszeit der Ace & Tate-Pop-up-Store aus der Berliner Torstraße. Dessen fast ausschließlich nicht der deutschen Sprache mächtiges Personal hat Verständnis für Kunden wie mich, die mehrere Nächte über eine so gewichtige Entscheidung wie die kommene Brillenfassung schlafen müssen. Nach gut zwei Wochen reduziert sich die Auswahl auf die Modelle Sam und Benjamin. Auf dem ästhetischen Auge blinde Zeitgenossen mögen spotten, Sam und Benjamin sehen recht ähnlich aus. Wie dem auch sei, nach einer weiteren Wochen fällt die Wahl auf den minimal feminineren Sam. Von nun an soll alles ganz einfach sein: online seine Sehstärke und die diversen Behinderungen eingeben, warten, bis Sam im Brefkasten landet.

Natürlich habe ich schlauer Fuchs zuvor den Fielmann-Kundenservice eines kostenlosen Sehtests in Anspruch genommen. Meine Kundenbetreuerin in Steglitz ist mittelmäßig engagiert und professionell freundlich. Damit betrachte ich die Sache als abgeschlossen.

Leider ziehen manche Geschenke so viel Aktionen nach sich, dass man wünscht, sie nie bekommen zu haben. Als Sam mit ein wenig Verspätung bei mir eintrifft, braucht es nur den einmaligen Gang zum Supermarkt, um festzustellen, dass mit der Stärke etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Ich taumele. Nach einem weiteren halben Tag Probe tragen begebe ich mich zur nächstgelegenen Fielmann-Filiale. Man ist dort, finde ich, immer recht gut aufgehoben. Es gibt wenig Produkte für die ich mit meinem Namen einstehen würde, Dr. Beckmanns Rotwein-Fleckensalz vielleicht. Fielmann ist auch dabei.

Von Servicewüste kann bei Fielmann keine Rede sein, Fielmann ist der Servicedschungel. So ist es mir fast gar nicht unangenehm, mit einer nicht bei Fielmann erworbenen Brille zu Fielmann zu gehen. Meine Kundenbetreuerin in Berlin-Mitte heißt Frau Obst, “wie das Obst.” Zunächst muss das Problem möglichst plastisch geschildert werden. Ich scheitere daran, Frau Obst das Konzept des Pop-Up-Stores zu erklären und auch die Relevanz des optischen Ersteindrucks einer Brille und zwar auf die Außenwelt, nicht auf meine Augen. Wenn es nach Frau Obst ginge, würde ich Sam an Ort und Stelle gegen ein Modell eintauschen, das zu meiner Nase passt. Ein Modell wie ihres, das seinen Trendhöhepunkt, den es zweifellos hatte, um gute fünf Jahre überschritten hat.

Was helfen könnte: einen neuen Sehtest machen, auch wenn der letzte keinen Monat zurückliegt. Es komme dabei, sagt Frau Obst, immer auch die Tagesverfassung an. Wie war sie denn, meine Verfassung, damals vor 4 Wochen? Ich überlege. Tatsächlich erinnere ich mich gut an den Tag des letzten Sehtests beziehungsweise an den Abend davor. Ein ausgesprochen wichtiger Abend, nur minimal nachträglich idealisiert. Normalerweise hätte ich Kontaktlinsen getragen an diesem Abend. Brille, das werden wohl die meisten Brillenträger bestätigen, ist nämlich gleich Gammel. Pflichtbewusst bin ich trotzdem der Aufforderung “mindestens 24 Stunden vor dem Sehtest keine Kontaktlinsen tragen” gefolgt, so ernst war es mir. Ich glaube nicht, dass Frau Obst dieses Opfer nachvollziehen kann. Jetzt gilt es also, den Zustand des Tages von vor vier Wochen mit dem von heute zu vergleichen. Vor vier Wochen war ich ein klein wenig fitter, glaube ich. Frau Obst nickt. Wobei, vielleicht war ich einfach nur besser gelaunt, eine Prä-Weihnachts- oder Post-wichtiger-Abend-Euphorie? Frau Obst hebt die Augenbrauen. Schon komme ich ins Schwimmen und Frau Obst macht sich schlecht als Rettungsrin. Stattdessen besteht sie auf einen zweiten Sehtest.

So ein Sehtest kitzelt die Neurosen. Erstens geht es mir damit wie mit Weinverkostungen: wenn das nächste Bild kommt, hab ich das letzte schon wieder vergessen. Auf die Frage “Wird die Zwei mit dem nächsten Glas besser oder nur kleiner und schwarzer?” folgt viel zu oft die schamvolle Bitte “Können Sie noch mal zurück schalten?” Zweitens habe ich immer so große Angst, einen Fehler zu machen, was bei einem Sehtest bedeuten würde, dass ich mehrere Jahre mit der falschen Sehstärke geschlagen bin und vielleicht blind werde. Drittens werde ich mit meiner Entscheidungsunfähigkeit konfrontiert. Die Frage “Welches Punkterad ist deutlicher?” löst eine mittlere Panik aus.

Heute noch mehr als vor vier Wochen. Es ist nämlich so: Nach dem Mittagessen muss ich immer etwas Süßes essen. Das Mittagessen liegt schon ein Weilchen zurück. Mit jeder Zahl, kleiner oder schwärzer oder schärfer, sinkt die Konzentration. In Gedanken bin ich beim Kuchenstück, das zu Hause wartet, mit Vanilleeis. Das Namensschild meiner Fielmann-Kundenbetreuerin erinnert mich an den halben Granatapfel im Obstschälchen, dessen Kerne man über das Vanilleeis geben könnte. Noch eine Zahlenreihe. “Können wir noch mal zurück gehen?”, frage ich. Können wir nicht – Frau Obst ist eine strenge Fielmann-Kundenbetreuerin. “Besser oder kleiner und schwarzer?” Habe ich gerade laut “Granatapfelkerne” gesagt?

Erwartungsgemäß unterscheiden sich die heutigen Werte von denen des letzten Sehtests und, du lieber Himmel, ich soll jetzt entscheiden, welche wir verwenden. Ein Versuch der charmanten Art zielt natürlich auf die fachliche Kompetenz des Optikers ab (“das wissen Sie doch viel besser!”), aber Frau Obst hat mich schon lange durchschaut. Ich muss die Entscheidung treffen, so sei nun mal das Leben.

Bis ich mich entscheide, machen wir ein bisschen was für die Fitness. Hinsetzen, aufstehen, hinsetzen, aufstehen, umherlaufen, hinsetzen, wieder aufstehen, wieder sitzen, Frau Obsts linkes, dann ihr rechtes Auge fokussieren. Jedes Mal malt Frau Obst rote Kreuze auf meine Brillengläser. Mir ist schwindelig. Ich muss an einen kürzlich gelesenen Artikel denken, der meint, die durchlittene Zeit im Theater sei maßgeblich für die anschließende Katharsis; wenn es sich hier ähnlich verhält, ist mein Jahr schon Anfang Januar in trockenen Tüchern.

Als meine Brillengläser aussehen wie eine Zielscheibe, kommt Frau Obst die Eingebung, irgendeinen Abstand auszumessen. Dazu müsse sie wissen, wo ich die letzten Gläser einsetzen habe lassen. Bei Fielmann, sage ich. Frau Obst lacht. Ganz so einfach sei die Sache nicht, die Filiale brauche sie schon. Ich überlege. Berlin, Frankfurter Allee, sage ich. Frau Obst geht telefonieren, Frau Obst kommt zurück und schüttelt den Kopf. Das ist das Problem eines Patchwork-Familien-Kindes, es hat seine Wehwehchen übers ganze Land verstreut. Im Süden lagern die Röntgenbilder des kaputten Knies, im Westen das große Blutbild, im Norden der Allergiepass. Ich überlege. Weinheim, sage ich. Wieder geht Frau Obst telefonieren. Was die Fielmann-Situation in Weinheim betrifft, bin ich jetzt bestens informiert: Von zwei Filialen (Bahnhofsstraße, Haupstraße) gibt es dort nur noch eine. Keine von beiden hat meine Daten, aber vielleicht heiße ich ja eigentlich Ruth? Ich überlege; nicht, ob ich Ruth heiße, sondern ob die Brille möglicherweise an der dritten Patchwork-Station in Auftrag gegeben wurde. Frau Obst geht telefonieren, ohne Erfolg. Habe ich die Gläser vielleicht in Wien einsetzen lassen, wo ich die Brille gekauft habe? Granatapfelkerne.

Kurz vorm Unterzucker-Delirium spricht Frau Obst die erlösenden Worte: “Das war’s dann schon!” Fielmann werde sich Sam und meiner annehmen, die schlampig eingepassten Gläser austauschen, Sam so gut es geht an meine Nasenform anpassen und all das kostenlos. Nicht, dass sie nicht nett gewesen wären, die girls und boys vom Ace & Tate-Onlineshop. Sogar eine handsignierte Grußkarte mit Hohoho, Santa Clause brings your glasses to town oder etwas in der Art gab es. Trotzdem ist das in jeder Fielmann-Filiale herrschende subtropische Betriebsklima – als Gegensatz zur vielzitierten Servicewüste – ein schöner Beweis für die Überlegenheit der face-to-face-Kundenbeziehung.

Es ist vollbracht. Auf wackligen Beinen begebe ich mich zum Ausgang, das heißt, ich werde geleitet, von Frau Obst persönlich. Dann mache ich etwas, das ich sonst nie mache: ich verabschiede Frau Obst mit Namen und das, ohne dass ich auf das Schild auf ihrer Brust schielen muss, eine kleine Sensation für jemanden, der gewöhnlich sowohl Namen als auch Gesichter vergisst. “Hat lang gedauert”, sagt Frau Obst und sieht überhaupt nicht danach aus.

Der Kuchen zu Hause hat natürlich ganz fabelhaft geschmeckt. Beim Pulen der Granatapfelkerne habe ich an Frau Obst gedacht.