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Falls es jemand noch nicht mitbekommen hat: Berlin ist durch. Nach Jahren des Schlendrians, der dank Luftschloss-Flughafen auch dem Rest des Landes nicht verborgen blieb, lautet die Diagnose des multimorbiden Patients Anfang 2014 “baldiges Ableben.” Wir Nachgeborenen waren sowieso zu spät, wir kennen die runtergerockte Torstraße mit ihren Kellerlochraves und den pseudo-japanischen Galerien nur aus Erzählungen. Wir, die erst nach der Wende von Süddeutschland in die Metropole zogen, besuchen bestenfalls temporäre Re-Openings ehemals legendärer Clubs und stellen Bücher ins Regal mit dem Titel “Nachtleben Berlin 1974 bis heute.” Wir verpassten die Mietpreise von zwei Euro den Quadratmeter in unsanierten Altbauten und die 1€-Whiskys am Helmholtzplatz. Aber wir waren früh genug dran, um die Reste vom Hype abzukratzen, um die Sogwirkung der Stadt retrospektiv zu idealisieren, die so wenig Deutschland ist wie New York die USA. Berlin kitzelt eine Sehnsucht wach nach Glamour und Kaputtheit und einer sinn- und sorgenfreien Existenz zwischen Gratis-WLAN im St. Oberholz und Gemüseschlachten auf der Oberholzbrücke. Selbst harte Jungs aus Übersee gehen beinahe zu Grunde an den unendlichen Spaßoptionen und den inflationären Bierpreisen. Der Rolling Stone ist sich nicht zu schade, dieser Tage noch eine Hautnah-dran-Reportage über die “härteste Tür der Welt” zu bringen, was schon zwei Jahre zuvor im Stern seltsam unzeitgemäß wirkte. Schlussendlich haben die Berlin-Nörgler recht behalten: die Stadt nähert sich der Bedeutungslosigkeit.

Ein Leichtes, den vorliegenden Text in Links und Offline-Referenzen zu ertränken (einer noch: Tobias Rapp, “Lost and Sound”, die ganze Bar 25-Chose). Rückblickend schäme ich mich ein wenig, wenn ich bedenke, wie viel Technoliteratur ich gelesen, wie viele Diskussionen ich geführt habe über die crazyness dieser Stadt, über das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dabei ist es im Grunde genommen unmöglich, als Wahlberliner eine vernünftige Position zu vertreten. Entweder man ist Teil des Brimboriums (als in-der-Berghain-Schlange-Bangender oder seinen Non-Konformismus abfeiernder vor-14-Uhr-mit-dem-Bier-an-der-Spree-Sitzer) oder man zieht nach Spandau. Nur die Ur-Berliner genießen Narrenfreiheit, weil sie ja immer schon da waren (meinen Glückwunsch).

Kurzum: Es ist so anstrengend wie unvermeidlich, sich mit dem Phänomen Berlin auseinander zu setzen, zumindest, wenn man dort lebt. Während das Berlin-Bashing auf seinen hitzigen Höhepunkt zusteuert, bemerken die Berufshipster von Mit Vergnügen, dass es schon lange nicht mehr um tagelange Partyexzesse geht. Wir schreiben das Jahr x des Foodblog-Overkills: “Essen ist das neue Feiern.” Essen gehen ist auch in Paris und Stockholm schick, anders als da herrscht in Berlin allerdings ein verhältnismäßig gesundes Schönheitsideal, weswegen die Mehrheit der Frauen nicht halb verhungert in ihren Oversize-Pullovern hängt. Sie essen und tun nicht bloß so, als hauten sie richtig rein, analog zum Phänomen, wenn Models großkotzig ihre angeblich super-kalorienreichen Leibspeisen aufzählen.

Nudeln mit Tomatensoße in der Studenten-Wg ist 2010, heute kauft man entweder auf dem regionalen Wochenmarkt ein (der prekär lebende Kreativarbeiter) oder bei Kochhaus (der Angestellte mit nur halb intakter work-life-balance). Alternativ besucht man die Markthalle Neun in Kreuzberg mit dem Plan, die Zutaten für das Rezept aus dem “Sonntagessen” des Zeit Magazin-Blogs zu besorgen, um sie Stunden später zu verlassen, ohne Zutaten, dafür mit Pulled Pork Sandwich und Focaccia (man munkelt: dem besten der Stadt) und Mohnkuchen im Bauch. Wenn man Glück hat und experimentierfreudig ist, kostet man bei Big Stuff Smoked BBQ vom Haselnuss-Bacon-Milchshake oder den Pralinen aus krossem Speck umhüllt mit Schokolade. Man besucht soft openings von Restaurants (eine Art Generalprobe vor der Premiere) oder man schummelt sich auf Weinverkostungen.

Leider schlägt einem als Weintrinker in Clubs ja meistens Hass entgegen. Den Unterschied zwischen rot und weiß kriegen die meisten noch hin, bei der Frage nach Aromen oder Lagerung (Eichenfass?) wird es interessant. Ich kann nur jedem empfehlen, mal an einem Clubtresen eine kleine Weinprobe einzufordern, als Studie über menschliche Geduld. Aber Spaß beiseite! Bisher musste man sich entscheiden: entweder eine gute Party oder guten Wein. Heute werben Veranstaltungsreihen mit dem prima Slogan “Guter Wein macht Party!” und verkosten Weine von “motivierten Jungwinzern”, während DJs zum Tanz aufspielen. Früher mussten die Stunden bis weit nach Mitternacht kreativ gefüllt werden – ganz früher mit Trinkspielen, um möglichst schnell besoffen zu sein, etwas später dann mit reden und dabei nüchtern genug bleiben, um am Türsteher vorbei zu kommen – heute tanzt man am späten Nachmittag im Prince Charles zu Hip Hop und schafft sich mit Burgern eine Grundlage für den Alkohol.

Marteria liegt falsch. Vielleicht sind wir sogar die Generation, die der Genussfeindlichkeit wieder die Stirn bietet, nur eben nicht durch Flatratesaufen, sondern in Form von gewissenhaft zubereiteten Cocktailklassikern oder fancy Neuschöpfungen (Bourbon, Ahornsirup, Rosmarin). Statt Tonic von Spreequell mit Discounter-Gin fällt die Wahl auf Hendricks mit Thomas Henry. Manche pilgern zur Schwarzwälder Destillerie von Monkey 47 und nennen es Bildungsreise!

Dass Essen das neue Feiern sein könnte, ahnte ich bereits. Es muss um die Zeit gewesen sein, als ich Foursquare von der dritten auf die erste Seite meines Homebildschirms verschoben habe. Foursquare ist eine App, mit der Menschen mit zu viel Freizeit ihre Freizeit organisieren. Wer ein Café, eine Bar, ein Restaurant besucht, “checkt ein”, kann eine Bewertung hinterlassen und sehen, welcher seiner Freunde schon da war. Ist man gerade mit einem anderen Foursquare-Nutzer unterwegs, checkt man diesen gleich mit ein. Aus datenschutztechnischer Sicht ist es natürlich hochproblematisch, wenn meine Freundesfreunde immer sehen, wo ich gerade Kaffee trinke (machmal will man den Kuchen dazu nicht teilen). Als Anhängerin jeglicher Form der To-Do-Liste freue ich mich hauptsächlich über die Möglichkeit, meine Ausgehtipps zu sortieren, nach Städten oder Anlässen zu kategorisieren und die Listen meiner Freunde zu abonnieren. Kurz bevor ich anfange, selbst Tipps zu hinterlassen (“bester Cheesecake der Stadt; Vorsicht vor der dunkelhaarigen Barista, die verwässert den Kaffee!”), kommt mir eine andere Idee. In Berlin ist es nie zu spät, etwas zu starten.

Avantgardisten tauschen dieser Tage ihre Wohnung in der Weserstraße gegen einen unsanierten Altbau in Pankow. Die wahren Avantgardisten ziehen nach Krakau oder Wien (da macht das Wiener Herz einen Hüpfer). Die vollendeten Avantgardisten bleiben, wo sie sind, erfreut die Veränderungen in ihrem Kiez registrierend, die entweder eine vierte Welle der Gentrifizierung sind oder ein Schritt in die #normalität. Plötzlich gibt es Bars in Fußnähe, deren Personal den Negroni nicht in erst in der Cocktail-App checken muss. Note to self: Wohnung behalten, Foodblog starten. Es gibt viele hungrige Mäuler zu stopfen. Berlin ist tot, es lebe Berlin!