Es findet Dich – Gedanken zur Reiselektüre

Sagen wir es so: Ich bin viel im Kreis geschwommen. Nach zehn Runden sind die Rückenschmerzen verschwunden, nach zwanzig die trüben Gedanken, nach dreißig fragt der mit Zahnlücken geschlagene kubanische Bademeister, ob alles in Ordnung sei, dabei will er nur baggern. Natürlich hat auch er irgendwann mal zu DDR-Zeiten in Plauen gelebt und kann deswegen “guten Tag, wie geht es Dir” sagen und “Hitler”.

Ja – Nein – Vielleicht

Reisen macht den Kopf frei, Urlaub manchmal auch. Urlaub, Reisen, wo liegt der Unterschied? Über diese Frage haben sich Generationen von Interrailern den Kopf zerbrochen. Pauschalurlauber eher nicht. Beides fängt an mit der Vorfreude und der Frage “Was nehme ich zu lesen mit?” Vor der sagenhaften Balireise steht der Dussmannstapel. An einem regnerischen Märzmontag (schlechtes Wetter wirkt so kurz vor Abreise ungemein positiv aufs Gemüt) verbringe ich mehrere Stunden damit, in “Berlins größtem Kulturkaufhaus” Häufchen umzuschichten. Ja, Nein, Vielleicht, der Klassiker; wie damals auf dem Willst-Du-mit-mir-gehen-Spiralblockzettelchen und bei IKEA. Am Ende sieht die Situation aus wie folgt:

Ja: Nadine Kegele, “Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen Zu Hause”; Clemens Meyer, “Die Nacht, die Lichter”
Nein: Tom Wolfe, “Fegefeuer der Eitelkeiten”; Michel Houellebecq, “Karte und Gebiet”; Rainald Goetz, “Klage”; Rebecca Martin, “Und alle so, yeah!”
Vielleicht: Christian Kracht, “New Wave”

imageAuch wenn der Rucksack aus den sprichwörtlichen Nähten platzt, der Kracht muss dann doch mit. Dass das Buch einer Eva gewidmet ist, sehe ich erst später. Wie sich die allermeisten Entscheidungen rückblickend als die einzig richtigen erweisen –

imageWerden – Sein – Vergehen

Es gibt viele Gründe, diesen Kracht für einen der brillantesten Schriftsteller seiner Generation zu halten. Einer davon ist seine Wandlungsfähigkeit. Sein Debüt “Faserland” ist ein Pop-Roman durch und durch, alles, was man an Pop scheisse finden kann, erfüllend, ohne sich dafür zu entschuldigen. Oberflächlich, an der Grenze zum Snobismus, thematisch banal, sprachlich schlicht, abgesehen vom Schwelgen in Statussymbolen. Der Nach-Nachfolger “1979” (“Der gelbe Bleistift” steht noch auf der to-read-Liste) dann überraschend politisch, existenziell, eine Wucht, selbst als Hörbuch auf der Autofahrt von Berlin nach Süddeutschland.
Am Reiseschriftsteller Kracht muss man sein Spiel mit den Realitäten lieben. So, wie er seine Selbstinszenierung perfektioniert (wie ein lieber Freund eindrucksvoll in seiner Abschlussarbeit belegte), wechselt er auch in seiner Prosa zwischen Wahrheit und Lüge, so beiläufig, wie er aus seinen Hermès-Slippern herausschlüpft, stelle ich mir vor.

So auch in “New Wave”, einer Sammlung Krachts in den Jahren 1999-2006 erschienenen Texten. “Gegen die Mittagsstunde Ankunft oben in der Klinik Buchinger. Früchtetag. Ein helles, freundliches Zimmer, lachsfarbene Bezüge, Doppelbett, nur eine Seite ist bezogen.” Mit dieser Beschreibung einer beginnenden Fastenkur ist ganz unironisch die Singletristesse belegt. Anderes kann nicht ernst gemeint sein oder wenigstens großzügig ausgeschmückt, die Lesereise nach St.Petersburg,  die Zugfahrt nach Tschernobyl. Die Frage, wie wahrscheinlich eine Wüstentour mit dem mongolischen Nationalgericht geröstetes Murmeltier als Ziel ist, beschäftigt uns Baliurlauber (oder sind wir Reisende?) jedenfalls ein paar träge Nachmittage lang.

Im Zweifelsfall halte auch ich es mit der Kracht’schen Reisedokumentation: lieber was dazu erfinden als ewig rumrecherchieren und darüber Erlebnisse verpassen.

Es findet Dich

In der kurzen Zeitspanne zwischen der Rückkehr von Bali und der Abreise nach Kuba passiert etwas Wunderbares. Die Arbeit am Bücherstapel ist da bereits abgeschlossen (Ja: Saša Stanišić, “Vor dem Fest”; Leif Randt, “Schimmernder Dunst über Coby County”; Karl Ove Knausgård, “Liebe”; Gertraud Klemm, “Herzmilch”; Wolf Haas, “Der Brenner und der liebe Gott”. Platz im Koffer gibt es eigentlich keinen mehr.
In einer Samstagnacht Anfang April finde ich auf dem Heimweg in der Tram “Mesopotamia”, einen Sammelband, herausgegeben von Christian Kracht, bei Amazon bereits vergriffen. Es geht darin nicht nur, aber an vielen Stellen ums Reisen. In solchen Momenten schlägt  meine latent astrologische Neigung durch, I call it Vorhersehung, und es mag albern sein, aber ja: manchmal findet es Dich.

Nicht mal amüsant und in Zukunft ohne mich

Nicht im Koffer, aber im Kopf: David Foster Wallaces grandioser Kreuzfahrt-Irrsinn “Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich”. Schon weil dieses Buch so weit oben steht auf der Liste der all-time-favourites, ist es ewiger Referenzpunkt skurriler Begebenheiten. Keinen halben Tag braucht es, bis ich die Überschrift für die reale Urlaubs- (in Abgrenzung zur Reise-)Situation im All-Inclusive-Hotel auf Kuba gefunden habe: “Nicht mal amüsant und in Zukunft ohne mich.”

Alles ist so offensichtlich klischeebeladen, dass sich ein Aufschreiben eigentlich erübrigt: sonnengeküsste Kanadier, die sich morgens um 10 ihren Kanada-Flaggen-to-go-Becher mit Cuba Libre (Verhältnis Cola – Rum 1:3) vollmachen lassen, dabei gibt es doch den ganzen Tag über alles umsonst! Bleiche Deutsche, die mit ihrem ersten Bier nicht mal bis 10 warten. Die einzige Variation des immer gleichen Tagesablaufs besteht in der Verschiedenheit der Handtuchtierchen, mit denen sich das Zimmermädchen verkünstelt.

All-inclusive heißt: Keine Lust haben, an den täglich wechselnden Kunsthandwerkständen etwas zu kaufen, große Lust haben, sich sofort nach Rückkehr all seine Tätowierungen weglasern zu lassen. Abendunterhaltung (Beach Party: “No shoes, no shame”). Leute, die wie ich rumsitzen, Kaffee statt Mojito trinken und schreiben, sollen Salsa lernen oder “un poco español.” In der Summe führt all das zu Unverständnis, Bockigkeit und manchmal zu einer so nicht gekannten bodenlosen Wut.

Ein Glücksfall, wenn man Getraud Klemm glaubt. Ihr Roman “Herzmilch” handelt von einer alleinstehenden Akademikerin, die ungewollt Mutter wird und von nun an nicht bloß mit sich als Frau, sondern ihrem Status als Alleinerziehende hadert. Sprachlich ist das oft schlicht, inhaltlich stellenweise erwartbar, vielleicht aber auch nur für jemanden, der sich schon umfassend mit feministischen Fragestellungen befasst hat. Was gefällt, ist Klemms Bejahung der Wut-Frau, dem Aufmucken gegen das System, nenn es Patriarchat, Pay-Gap, Kinderkrieg-Imperativ, wie auch immer. Während sich die Protagonistin sich diese Wut nur bedingt eingesteht, gönnt sie sie ihrer Tochter in vollem Umfang:

“Von da an lasse ich Lenchens Wut unbeschnitten, lasse sie wachsen und sich verzweigen, verholzen. Lenchens Wut darf ausreifen zu Rücksichtslosigkeit, zu Zielstrebigkeit, zu Managementqualitäten, zu intellektuellem Erregungspotential oder zu künstlerischem Genie. Wenn Lenchen in die Pubertät kommt und in den Dunstkreis der Machtlosigkeit, wird es zu spät sein, sie umzuerziehen. Dann muss sich die Gesellschaft mit ihrer Wut auseinandersetzen.”

Anders als ihre Mutter, soll Lenchen ihre Lebensenergie nicht bloß auf Schleifchen und Schlanksein verwenden, sondern nach den Sternen greifen.

“Kaum eine von uns träumt. Beim Träumen ist Vorsicht angebracht. Träumen hat etwas mit Raketen zu tun oder mit Bill Gates oder Beamen. Träumen ist inkompatibel mit Kinderkriegen. Träumchen allerdings gehen.”

Raketen angeln

Ewig scheint die beglückende Lektüre von Karen Köhlers “Wir haben Raketen geangelt” zurück zu liegen. Mit dieser Erinnerung beschließe ich, die David Foster Wallace-Vorhölle zum Roadtrip umzuschreiben. Denn was anderes ist Leben, als die eigene Geschichte zu verfassen?

Raketen angeln geht so: Ticket für den Überlandbus buchen, entgegen aller gut gemeinten Ratschläge ohne sichere Unterkunft losfahren, mit nicht viel mehr als einer Kreditkarte, zwei Lippenstiften, dem Reisetagebuch und vier Büchern in der Tasche.

Werden – Sein – Vergehen?

“Manche fangen an, sehr viel zu lesen, sobald sie labil sind, alte Texte, in denen Leute aus einer anderen Zeit von ihrer eigenen Labilität erzählen.”

Trost durch Literatur, diese Formel hat auch in Leif Randts Wohlstands-Dytopie/Utopie “Schimmernder Dunst über Coby County” Gültigkeit. Die Sache mit der ironischen Überspitzung durch übermäßige Floskelnutzung hat der Autor übergut drauf. Mit seinem Zwischenmenschlichkeitsbeziehungstohuwabohu (Paar, Affäre, Freundschaft mit Sex) trifft er den Nerv der Zeit. Amüsant ist das, wahr natürlich auch und trotzdem berührt es nur entfernt. Entweder, es soll nicht berühren oder mein Ironiemuskel ist bereits zu ausgeleiert. Dabei bin ich doch noch relativ jung!

“Überhaupt ist sehr vieles möglich und überhaupt bin ich noch relativ jung. Aber das sind Gedanken, die sich immer einstellen, wenn ich anfange, betrunken zu sein. Vorübergehend kommt mir die Welt dann komplex und magisch vor.”

Irony is over

Den – vermeintlich – entgegengesetzten Weg geht “Mesopotamia”. Ironie des Schicksals war ja bereits der Fund in der Tram. “Irony is over”, verkündet auf dem Buchtücken Niklas Maak von der Süddeutschen Zeitung, “Subversion is over” Georg M. Oswald in der Taz und “Irony definitely is not over” Oliver Georgi von Literaturkritik.de. Solcherlei Spielerei liebe ich sehr.

Unterteilt in die Sektionen “Werden – Sein – Vergehen” gehen siebzehn Autoren der Frage nach dem Jetzt in der deutschen Literatur nach.  Irgendwie wollen sie alle weg, Benjamin von Stuckrad Barres namenloser Ich-Erzähler wie Elke Natters frustrierte Cliquenurlauberin, Moritz von Uslars Skihaserl genauso wie Eckhart Nickels Journalist auf Maltaurlaub.

“Also buchte ich den Flug. Ich hatte ohnedies keinen Plan für die nächste Zeit, und die Reise versprach eine mögliche Abwechslung, die mir helfen konnte, den allgemeinen Zustand der Verwirrung, in dem ich mich befand, zu durchdringen. Viel zu lange schon hatte ich vergeblich versucht, seiner Herr zu werden.”

Von Stuckrad-Barre beginnt mit dem herrlichen Satz “Das Geld war aus und ich musste mir Arbeit suchen.” Am Ende seiner Erzählung “Saisonarbeiter” würde das Geld für eine Fernreise – der Unterschied zum Urlaub wird auch hier explizit thematisiert – reichen, wird möglicherweise aber in Bier am heimischen Baggersee investiert. Bei Carl von Siemens wird es grundsätzlicher:

“Serendipity – the faculty of making happy or unexpected discoveries by accident.”

Serendipity ist, was Reisen vom Urlaub unterscheidet. Viele Begegnungen führen zu nichts, andere zu den inspirierendsten Gesprächen des Jahres. Daran werde ich auf meinem Havanna-Trip erinnert. Bei frisch gemahlenem, kubanischem Kaffee (wenn nicht gerade die Maschine ausfällt) spinnen sich Theorien über weiße und schwarze Mitarbeiterkarten, weiße Leinwände, statt schwarzer Löcher, das Marmeladenproblem. “Freiheit ist anstrengend”, aber auch ein Geschenk. Danke dafür.

In solchen Momenten ist man erfüllt von einer tiefen Dankbarkeit Mark Zuckerberg gegenüber, der aus flüchtigen Begegnungen haltbare Bande knüpft. Die Schattenseiten dieser Bande sind ja zu Genüge bekannt:

“Ein einziges Inszenieren von Fröhlichkeit und guter Laune, die bei jeder Gelegenheit festgehalten und dokumentiert wird, mit allen zur Verfügung stehenden Apparaten. Von jedem Foto werden vierhundert Abzüge gemacht, aus hundert Fotos werden vierhundert, die alle gutgelaunte junge Menschen zeigen, die die beste Zeit ihres Lebens haben. Diese Fotos haben den einzigen Zweck, den Zuhausegebliebenen zu zeigen, was für einen großartigen Spaß sie hatten und was sie, die Zuhausegebliebenen, damit verpasst haben.”

Elke Naters Kurzgeschichte “Mau Mau” entstand in der Prä-Facebook-Ära. Was die Autorin bereits vor 2000 als lächerliche Inszenierung durchschaute, hat heute natürlich ganz andere Ausmaße angenommen. Gerne würde ich sagen “steh ich drüber”, aber gerade die Zeit in Havanna ohne Internet ist eine existenzielle Erfahrung. Schockierend, welche physischen Prozesse nach einer derart langen Netzabstzinenz ablaufen: rauschhafte Extase, ähnlich, wie man sich den ersten Schuss nach einem Heroinentzug vorzustellen hat.

Wie ungetrübt heiter ist dagegen Moritz von Uslars Kurzgeschichte “Davos”, die ich beim letzten Drink des Tages – einem Negroni, der keiner war, aber unter größten Mühen zubereitet und aufs Herzlichste serviert wurde – auf einer Piazza sitzend lese.

“Ich versuche, mich festzuhalten an diesem Anflug von Freundlichkeit, der den Graus der letzten Jahre – Arbeit, Arbeit und Kettenrauchen bei der Arbeit – wegblasen soll wie der Wind das Weiß auf dem Zweitausendfünfhunderter Jakobshorn. Jetzt runterschalten. Festhalten! Auf Teufel komm raus: die Entspannung. Dann geschieht es: absolut nichts mehr. Die Kur, das Wohlgefühl, meine Erholung klopfen an, wünschen guten Abend: Welcome!”

Was gibt es Schöneres, als in der Öffentlichkeit laut über Literatur zu lachen? Das denkt sich wohl auch die Vierergruppe am Nebentisch, drei ältere, südeuropäischen Herren im Maßanzug und eine junge Einheimische auf Killerheels. Auf ihre Frage “What are you reading, Miss?” bleibt wenig mehr zu sagen als “German short stories”.

Krise immer Chance

Genauso lustig sind österreichische Krimis, wenn sie Wolf Haase geschrieben hat. Dass ich den nicht schon viel früher entdeckt hab, beziehungsweise mich seine Bücher gefunden, kann ich mir rückblickend nicht erklären. Schon der Ösiliebe wegen und dem Wortwitz und dem Schrulligkeitssammeltrieb. Da spielt es gar keine Rolle, dass man Krimis als gebildeter Mensch trivial finden muss (das wird man ja wohl schreiben dürfen, das sagt sogar der Autor selbst). Glücklicherweise verbergen ja die Österreicher im Allgemeinen und die Wiener im Besonderen hinter ihrer missmutigen Fassade eine Heiterkeit, lauert hinter dem Morbiden ein affirmativer Fatalismus, nach dem Motto “das Leben ist eine Zumutung, aber eine gute.” Trifft sich gut, dass sich der Kommissar Brenner im siebten Band der Serie auch in einer Scheisslage befindet.

“Jetzt musst du wissen, Krise immer Chance! Und bevor dir der Brenner zu sehr leidtut, wie er da ohne Auto und ohne Job und ohne Schirm und ohne Plan und nur mit seiner billigen Reisetasche und dem lästigen Hirnwurm “Zone der Durchsichtigkeit” im Regen steht, muss ich dir eines sagen. Wenn es nicht geregnet hätte, wenn der Brenner nicht so deprimiert durch den Regen spaziert  wäre, als hätte er noch nie was von einer Straßenbahn, von einer U-Bahn, von einem Taxi gehört, wäre es ihm vielleicht gar nicht aufgefallen.”

Weil Du musst wissen, auch ohne Regen Depression möglich. Was gleich auffällt, und zwar positiv, ist die Perspektive. Haas lässt einen sogenannten allwissenden Erzähler erzählen, der so allwissend gar nicht ist, eher geschwätzig und manchmal sogar Falschaussagen und Grammatikfehler macht.

Fähen könnten eine Rolle spielen

Eine ähnlich geniale Erzählhaltung wählt Saša Stanišić. Im vorläufigen Glauben, es handele sich bei “Vor dem Fest” nur um eine super erzählte Norddeutschland-Dorf-Geschichte, ähnlich heiter im Tonfall wie Moritz von Uslars “Deutschboden”, staunte ich über die sich allmählich entfaltende Jahrhunderte alte Dorfchronik, meisterhaft mit der Gegenwart ver-zeit-zahnt. All das so leichtfüßig erzählt LINK aus Sicht des Dorfs Fürstenfelde als auktorialem Kollektiv-Erzähler (“Wir sind argwöhnisch. Seit drei Wochen lungert ein junger Mann spät nachts bei uns herum bis zum Morgengrauen”), so lebensfroh und voller Sympathie für seine Figuren, dass ich zur Abwechslung mal Tränen lache, anstatt sie zu weinen (oh, es ist eine turbulente Zeit). Serendipity: Eine Nebenfigur in “Vor dem Fest” ist eine Fähe, ein weiblicher Fuchs, eine Füchsin.

“Vor ihrer Schnauze schwebt ein Regentropfen. Tropfen tun das nicht. Tun nicht nichts. Er müsste weiterfallen, aber etwas hindert ihn. Die Fähe weiß, sie muss weiter, aber etwas hindert sie. Etwas hindert die Welt. – Der lange eiserne Schlag verstummt. Um die Fähe wird es so still, dass sie die Stille schmeckt. Wenn alles still ist, schmeckt die Stille wie alles auf einmal.”

Das hab ich auf Kuba gelernt: Le lobo = der Fuchs. In spanischsprachigen Ländern kennen Sie den Unterschied zu einem Wolf viel besser.

Tiere fahren keine mit auf der Überlandsbusfahrt zurück zum Hotel, alles andere scheint möglich. Der Großteil des kubanischen Straßennetzes ist so schmal, schlaglochübersät und menschenfeindlich wie der Feldweg von Straßberg nach Albstadt-Ebingen. Alle zwei Stunden macht man für eine halbe Stunde Pause, wenn nicht am Viazul-Terminal, so bevorzugt in strukturschwachen Gegenden, um die Lokalwirtschaft in Form von Marktständen anzukurbeln. Zu kaufen gibt es Pan con tortilla, kubanischen Kaffee, seltsam unaromatisches Obst und Erdnussriegel, worüber ich angesichts meines trostlosen Proviants sehr froh bin – zumal sich selbst die arme Kirchenmaus, die ich auf dieser Fahrt bin (schwäbisch-untypisch schlecht kalkuliert) noch etwas leisten kann.
Bis etwa zur Hälfte der Strecke sitzt ein gelbzähniger Kubaner neben mir, von dem ein, sagen wir mal, männlicher Geruch ausgeht. Er schläft praktisch die ganze Zeit, das heißt, nickt weg, wobei sich sein Kopf in einem immer schärferen Winkel zu meiner Schulter neigt. Gleichzeitig sehnt sich mein Vordermann offenbar auch nach Ruhe, weswegen er seinen Sitz bis zum Anschlag nach hinten kippt, und das ist weitaus mehr, als ein deutscher Reisebushersteller tolerieren würde. Nur einmal ist mein Nebensitzer wirklich anwesend, dann nämlich, als sein Telefon – und ausnahmsweise ist diese Bezeichnung angebracht – ein bizarres Sirenengeheul anstimmt, wie es sonst nur auf den richtig schlechten Technoparties oder den richtig gut ironisch gemeinten zu finden ist.

Vergehen – Werden – Sein

Am letzten Tag auf Foster-Wallace’ unfreiwilligen Spuren will ich wie jeden Morgen Kreise ziehen, als mich der mit Zahnlücken geschlagene Bademeister darauf hinweist, dies sei jetzt nicht möglich, Poolreinigung oder ein ähnlicher Quatsch. Nach drei Wochen morgendlichem Im-Kreis-Schwimmen habe ich gerade als Deutsche diese Routine voll verinnerlicht, eine Abweichung ist unmöglich, wo kommen wir denn da hin usw. usf. Erst ein paar Schrecksekunden später kommt mir die Idee, stattdessen im Meer schwimmen zu gehen.

Gedacht, getan. So früh ist kaum jemand am Strand. Keine Wellen stören die gleichförmigen Züge. Ich schwimme nicht wie die vergangenen zwanzig Tage, vierhundertachtzig Stunden, achtundzwanzigtausendachtundert Minuten im Kreis, sondern nach vorne, in einer einzigen Gerade, der Sonne entgegen.