EP’s kleines Wirtschaftseinmaleins oder: Das könnte Ihnen auch gefallen!

Eine überstrapazierte und nur noch ironisch zu gebrauchende Floskel aus dem Mund deutscher Werbemenschen besagt, man müsse die Leute da abholen, wo sie stehen. Weil man nicht wissen kann, wo welcher Mensch steht, nur ahnen, gibt es die Marktforschung. Deren Erkenntnisse sind schuld daran, dass uns die fiese Zalando-Anzeige nicht nur vom Lesen des so viel sinnvolleren SPIEGELonline-Artikel abhält, sondern dass wir glauben, genau jetzt sei es Zeit, das fünfte Paar Winterstiefel zu bestellen. Werbung, so belanglos, gefährlich und mitunter schlichtweg dumm sie manchmal ist, hat ihre Daseinsberechtigung, schließlich müssen Menschen weltweit beschäftigt werden und die Dinge, die chinesische Foxconn-Sklaven in stupider Fließbandplackerei erschaffen, an den Mann und an die Frau gebracht werden. Im links-radikalen Jargon heißt es, der Kapitalismus schafft Bedürfnisse, wo keine sind. Ja, wir alle gruseln uns vor sinnlosem Konsum, vor den unzähligen Produkten, die unbenutzt, ungetragen, ungeöffnet im Müll, in der Kleidersammlung, im Hausflur landen. Nett, dass Soziologen wie Mark Greif meiner Generation immerhin zugute halten, sie sei zwar nicht mehr politisch aktiv, setze aber durch bewusste Kaufentscheidungen Akzente, die Unternehmen und Regierungen zur Nachhaltigkeit, einer prima Ökobilanz usw. usf. erziehen: “Wenn diese konsumorientierte Kultur im hoffnungsfrohen Zeitalter von Barack Obama überlebt und sich verändert, dann werden ihre Anhänger vielleicht immer noch shoppen gehen – vielleicht haben sie ja eine vernünftiger zusammengestellte Einkaufsliste.”

Ja , lieber Mark! Gott sei Dank haben wir dafür das Internet, das in regelmäßigen Abstand unseren Kleiderschrank rundumerneuert, unsere Playlisten bereichert, unseren literarischen Horizont erweitert! Musste nicht eine Innovation wie Amazon das Licht der digitalen Welt erblicken, damit wir uns nicht nur für ein Buch entscheiden, sondern gleich drei weitere in den Einkaufswagen packen können, jene nämlich, die unter dem viel versprechenden Banner „Das könnte Ihnen auch gefallen!“ aufploppen?

Mindestens so wichtig wie Schuhe und Handtaschen und Bücher und Übergangsjacken sind all die immateriellen Güter, die Abnehmer brauchen. Hallo lieber Konsumbürger! Du interessierst Dich nicht für Politik? Macht ja nichts, denn die Piraten haben die deutsche Parteienlandschaft dahingehend pluralisiert, dass es jetzt auch für Politikmuffel einen Grund gibt, ein Kreuz zu machen. Bei der Wahl für das Berliner Abgeordnetenhaus 2011 lohnte sich der Marsch zum Kindergarten „Känguru“, der zur Friedrichshainer Wahlzentrale umfunktioniert wurde, allein schon wegen dem Menschenauflauf, der sich die gut zwanzig Minuten Wartezeit mit selbstgedrehten Zigaretten, Reclamheftchen und zahlreichen iPhones erträglich machte. Vom autonomen BMW-Anzünder, über die Tragetuch-Mama, den schwäbischen Studenten, der sein Kindergeld zum Bio-Discounter trägt, bis zum Chucks-zum-Anzug-Träger: Was für ein anschaulicher Abriss der demografischen Kiez-Situation! Auch wenn ich weder in der Wahlkabine Mäuschen gespielt habe, sozusagen, noch die parteipolitische Vergangenheit meiner Nachbarn kenne, stelle ich mal eben die (zugegeben gewagte) These in den virtuellen Raum, dass viele von ihnen früher maximal die Grünen gut fanden, eventuell aber Politik erst seit dem Slogan „Klar machen zum Entern“ sexy finden. Kokettieren die Piraten doch selbst mit dem Image des Computer-fixierten Nerds (der sich vom Hipster manchmal nur in Nuancen wie dem Mantra „Linux statt Mac“ unterscheidet), einer Existenzform, die  sich zwischen “World of Warcraft” und LAN-Parties in ihrer politikfernen Sphäre ganz passabel eingerichtet hat und für Wirtschaft wenig Begeisterung aufbringt, solange die Preise des Pizzaservice stagnieren. Und auch wenn glücklicherweise nicht nur langhaarige Soziopathen als Piratenvertreter durch die Medien geistern, geben selbst kluge junge und ja: weibliche! Mitglieder zu, sich vor ihrem Parteieintritt kaum für politische Vorgänge interessiert zu haben.

Piraten schauen nicht fern, sie sind ja meistens mit online-Sein beschäftigt und ihnen gleich tun es Millionen anderer junger Menschen, die sich bewusst gegen einen Fernseher entscheiden. Für sein Format „Roche und Böhmermann“ wirbt ZDFkultur deshalb marketingstrategisch gewitzt mit dem Slogan „Die Talkshow für Menschen, die keine Talkshows mögen.“ Recht haben die ZDFkultur Senderchefs, wer will schon Talkshow-Gucker sein? Erst recht, wenn man bedenkt, dass in diese Kategorie ja auch Formate wie „Britt“ und ehemals “Andreas Türck” (der TV-Gott hab ihn selig) fallen. R&B dagegen transportiert das, was Angehörige älterer Generationen vermutlich „frech“ finden. Weniger unglücklich formuliert: Charlotte Roche, coolste Frau unter der Sonne und Jan Böhmermann, ihr beinahe ebenbürtig, sind als Talkshowmaster (nennt man das heute noch so?) manchmal dreist, manchmal derb, immer smooth, immer so pointiert, dass Intellekt und Voyeurismus gleichzeitig auf ihre Kosten kommen. Aus soziologischer Perspektive ist das deswegen so interessant, weil ein immaterielles Produkt seiner Zielgruppe eine Distinktion anbietet, die auf einem Ausschlussverfahren beruht: Talkshowhasser aller Länder, vereinigt euch! Es stimmt zwar, dass Gruppenbildung immer die Abgrenzung nach außen hin braucht; neu ist, dass diese Gruppe eine von einer Institution künstlich hervorgebracht wird, in diesem Fall einem Fernsehsender, der das Prätentiöse schon im Namen trägt. Klar ist auch, wo dessen Motivation herrührt: Für ein stetig schrumpfendes Zielpublikum braucht es immer stärkere Anreize, die sich auf einem gleichzeitig stetig wachsenden Markt von Reizüberflutungen behaupten müssen.

Und noch ein Beispiel aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Laien-Fundus (Stichwort Reizüberflutung!): Welche andere Stadt als Berlin könnte ein Konzept wie das „Kochhaus“ ersinnen? Hierbei handelt es sich um einen Laden, nein einen Consumerspace! der im Wochenrhythmus saisonal konforme Rezepte raushaut, die nach Zutaten geordnet als „begehbares Kochbuch“ im Shop aufgebaut und vor Ort gekauft oder im Netz bestellt werden wollen. Von Vorteil ist, dass die Zutaten portionsweise abgepackt sind, man braucht also keine Familienpackung Rosinen kaufen, wenn sie nur schmückendes Beiwerk oder Topping sind. Von Vorteil ist auch, dass die Rezepte als Sammelkarten designt sind, makellos fotografiert, die natürlich zum Sammeln verleiten, also zur regelmäßigen Inspektion des “Kochhaus”-Sortiments. Außerdem, das will ich gar nicht bestreiten, fällt es leicht, sich von so exquisit klingenden Gerichten wie “Tagliatelle in Kürbis-Mascarpone-Crème”, “Mit Bergkäse gefüllte Roulade vom Kalbsrücken auf Vanillekarotten und Estragonstampf” oder “Birnen-Grieß-Küchlein mit warmer Schokoladen-Karamellsoße” verführen zu lassen. Von Nachteil ist, dass alles im “Kochhaus” heillos überteuert ist und ein Publikum bedient, für das die Bezeichnung „Bobo“ erfunden werden müsste, gäbe es sie nicht bereits. Heruntergebrochen geht es auch hier darum, solche Käufer zu erwischen, die völlig aus dem Zielgruppenraster fallen, Leute nämlich, die vom Kochen keine Ahnung haben, das zeigen die minutengenauen Angaben, “Risotto nach 18 Minuten vom Herd nehmen” und die idiotensicheren Portionierungen. Leuten, die nicht kochen können, Rezepte, Zutaten und am Besten noch die Küchenutensilien unterzujubeln, das ist schon eine ansehnliche Leistung und streng genommen ein bisschen so wie alten Damen, die per Schnurtelefon kommunizieren, eine WLAN-Flatrate aufzuquatschen.

All das soll beim Leser nicht den Eindruck erwecken, er müsse auf der Stelle beginnen, ein einwandfreier Mensch zu sein. Solche Art des Gesinnungsterrors liegt der Autorin völlig fern. Immer mit bestem Gewissen zu konsumieren ist auf Dauer doch sehr fad, einige der “Piarten”-Ideen zu genial und die Rezepte im “Kochhaus” zu lecker. Es lohnt sich schon, über Dinge dieser Art einmal nachzudenken, und sich bewusst dafür oder dagegen entscheiden. – Ich bin dann mal Schuhe kaufen.