Die Welt ist ein kranker Ort, was tun? Die Finger in die Ohren stecken? Die “Landlust” lesen?

Man schweift ab. In einem Seminarraum, vollgestopft mit gut vierzig Masterstudenten, stickiger Luft und Trübsalwetter hinter den Fensterscheiben braucht es schon eine große Portion Motivation, um vier Stunden lang den Ausführungen des Dozenten (putzig und interessant!) beziehungsweise der Kommilitonen (leider oft prätentiös) zu folgen. Vergangene Woche gelang es mir zum wiederholten Mal nicht. In der Schule hätte man in so einer Situation angefangen Comics zu zeichnen, allein “Käsekästchen” oder mit dem Nebensitzer “Schiffe versenken”  zu spielen (gibts heute bestimmt als App). Zehn Jahre später will der erwachsene (?) Kopf schon raffinierter bespaßt werden.

Es war dies der Moment, in dem meine linke Sitznachbarin mir die neueste Ausgabe der “Landlust” zuschob. Bisher kannte ich die “Landlust” nur als Sensation am Zeitschriftenmarkt: Während der Printsektor fast ausnahmslos ums Überleben kämpft und Einzelne schon das Ende des bezahlten Journalismus ausrufen, explodiert die Auflagenzahl eines Magazins, das sich mit Hausarbeit, Gartenarbeit und dem dolce vita in der Provinz beschäftigt. Nette Pointe: Besonders hoch ist die Zahl der verkauften Exemplare angeblich in den Metropolen. Am Höchsten wahrscheinlich in Berlin. Auf diese Erkenntnis folgte seitens der etablierten Medien eine ganze Flut von Annäherungsversuchen an dieses seltsame Phänomen. Wie kann es sein, dass alle plötzlich Sehnsucht nach dem einfachen Dasein verspüren? Warum ist die Frage nach der richtigen Heckenschere jetzt wichtiger als die des richtigen Coffeeshops? Die Technik des Marmelade-Einkochens gewichtiger als die Suche nach dem Italiener mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis? Schon waren Vergleiche zum Biedermeier und zur deutschen Romantik zur Hand; der moderne Mensch sehnt sich halt nach Stillstand und Rückzug ins Private und das fällt ihm dort leichter, wo nicht im Zehn-Minuten-Takt die Tram unterm Fenster vorbeidonnert.

Die “Landlust”: Marktführer im Bereich der “Lebensstil-Publikumszeitschriften aus dem Segment der Wohn-, Garten- sowie Koch-Magazine” (siehe Wikipedia), gehört zu den zwanzig auflagenstärksten Zeitungen Deutschlands (ebenda), herausgegeben vom Landwirtschaftsverlag Münster. Wikipedia behauptet zudem, dass 85 % der Leser in Orten mit weniger als 10.000 Einwohnern leben und “gutsituiert, kaufkräftig, naturverbunden und wertkonservativ” seien, “mit hoher Marken- und Qualitätsorientierung.” Diese Zuschreibung widerspricht dem, was ich glaube, über “Landlust” zu wissen (siehe oben), dass nämlich ein überproportional hoher Leseranteil kein Haus im Grünen besitzt, sondern zur Miete im Altbau wohnt. Das ist jetzt natürlich ein Halbwissen, das weiter zu überprüfen wäre. Was ich mit Sicherheit sagen kann ist, dass weder meine Kommilitonin noch ich ein Haus im Grünen besitzen und auch nicht wirklich gutsituiert oder wertkonservativ sind. Trotzdem konnte ich schon beim oberflächlichen Durchblättern die Faszination augenblicklich nachvollziehen. Es gibt Bastelanleitungen wie man aus Gugelhupfformen Kerzenhalter kreiert und aus alten Dielen Bänkchen baut, man erfährt, welche Lebensmittel und welche Zierpflanzen gerade Saison haben und lernt etwas über Truthühner. Weiter hinten im Heft finden sich Inserate für Ferien auf dem Bauernhof und Immobilien in der Toskana. Im internen “Landlust”-Shop kann man ein 6er-Set Servietten für 96 € bestellen, was die These der “gutsituierten” Leserschaft stützt. Eine große Rolle spielen die auf die Jahreszeiten abgestimmten Rezepte (Bündner Nusstorte, Weihnachtsplätzchen und Erkältungstees), die so lecker klingen, dass ich mir einige abfotografiere. Der ausschlaggebende Kaufanreiz waren für meine Kommilitonin eigener Aussage zufolge jedoch die großzügigen Fotos von nebelumwaberten Feldern, Blumengestecken (Herbst ist Dahlienzeit!) und den Landhausküchen mit ihrem scheinbar nachlässigem Durcheinander, das natürlich perfekt inszeniert ist. Diese übten eine beinahe meditative Wirkung auf sie aus – so wie auf mich, Mittwochnachmittag im Seminarraum II. Als ich mich in der Lektüre der Immobilienanzeigen verlor, ertappte ich mich bei der Erfüllung eines weit verbreiteten Klischees: Der müde Geisteswissenschaftler auf Sinnsuche, der sich in eskapistische Träume flüchtet vom Haus am Meer/ am See/ am Weinberg, wo er endlich zu sich selbst findet und einer erfüllenden, wahrhaftigen Tätigkeit nachgehen kann (Gartenkräuter züchten, Brot backen, Steckrüben anpflanzen, Milchkrüge töpfern).

In den kurzen Pausen meines Weggetreten-Seins hörte ich die Ankündigung des zu lesenden Buches “Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus.” Darin geht es, kurz gesagt, um den Originalitätszwang der Gegenwart, um die ökonomischen Gesetze und das Effizienzdiktat, dem selbst so scheinbar ineffiziente Dinge wie Kreativität unterlegen sind. Wortungetüme wie innere Leere, entfremdete Arbeit, Krise der Individualisierung rauschten durch meinen Gehörgang. In der Logik dieses Seminars ist meine Beschäftigung mit der “Landlust” also nur konsequent.

Auf dem Seminarplan eines anderen Kurses (der eine ungleich größere Abschweif-Gefahr mit sich bringt!) steht für Mitte Dezember Henry Thoreaus “Walden” (ich glaube man spricht es englisch aus: Wooooldän, dabei klingt Walden viel schöner). Der Autor krankte an der Schnelllebigkeit seiner Zeit und lebte folglich zwei Jahre lang in einer Hütte in den Wäldern von Massachusettes, ohne Strom, ohne fließendes Wasser, nur von dem, was die Natur hergab. Thoreau hatte da logischerweise viel Zeit zum Nachdenken, über Ökonomie, Natur, Literatur, höhere Gesetze und den Frühling. Man kennt diese Geschichten von tapferen Männern in den besten Jahren, die ihrem Smartphone und Emailaccount für eine begrenzte Zeitspanne entsagen, um sich selbst wieder zu spüren. Nachdem ich bedauerlicherweise feststellte, dass die prominenten Beispiele, die mir einfielen, allesamt Männer sind – sind Frauen doch leidensfähiger? – rettete Miriam Meckel meine Quote, die nach einem Burnout (herrje) die Geschwindigkeit ihres Lebens ebenfalls konsequent drosselte und dies in ihrem Buch “Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout” nachzeichnete. Aus vielen dieser Selbstexperimente, die so etwas wie der Himalaya-Aufstieg der Nullerjahre sind, wurden Bestseller, ich verweise an dieser Stelle auf Christoph Kochs “Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch” und “Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline” von Alex Rühle. Was mir an der Sache Bauchschmerzen bereitet, ist nicht der Umstand, dass sich jemand von der Welt abkapselt und ein temporäres Eremitendasein führt, sondern dass “Walden” 1854 erschien. Wird alles immer schlimmer? Werden unsere Enkel ihrerseits unsere Gegenwart historisch verklären? Werden sie sich sehnen nach dem Flugmodus, der dann ein Anachronismus sein wird, weil die Unerreichbarkeit gestorben ist?

Was also tun? Den Ausstieg planen? Facebook-Account löschen, offline für immer, Informationsabstinenz? Muss man so vorgehen wie der namenlose Held im wirklich großartigen Ratgeberroman “Die enthemmte Moderne meistern und den Rest seines Lebens retten in 25 einfachen Schritten”, den ich kürzlich gelesen und geliebt habe, der einen Tag vor seinem 35. Geburtstag feststellt, dass sein Leben den Bach runtergeht? Weil man nach der Lektüre dieses Buches aufhören darf zu glauben, das ständige Gefühl des Zuviel sei ein persönliches Problem, das Zeichen eines unsteten Charakters und anerkennen darf, dass wir es hier mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben? Jedoch: So anregend es ist, Aufgaben zu erfüllen wie “Listen Sie im Kopf alle Länder auf, die Sie bereist haben, um dort nach etwas Unbestimmten zu suchen, das ihr Leben verbessern könnte” oder “Verfassen Sie Ihr persönliches Manifest. Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wodurch heben Sie Sich von anderen ab? Ihr Manifest hilft Ihnen, sich auf Ihr Wesen und Ihre Lebensziele zu konzentrieren.” und so schön sich die Rückkehr des namenlosen Helden in das Ferienhaus seiner Kindheit liest – ich zweifle, ob es damit getan ist, sich ins feuchte Gras zu legen, die Arme hinter dem Kopf zu verschränken und Wolkenbilder zu bestaunen. Oder in den Worten des ebenfalls großartigen Clemens Setz: “Die Welt ist ein kranker Ort. Es hilft nichts, wenn man sich die Finger in die Ohren steckt und MIMIMI sagt.” Ich ergänze: Oder die “Landlust” liest? Ich habe ich erst mal klein angefangen. In wenigen Wochen werde ich ein Paket aus den USA erhalten. Darin wird sich meine neues iPhone Case befinden. Darauf zu sehen: Ein Bergpanorama. Ich stelle mir vor, dass ich bei akuter Gefahr des Zivilisations-Overkills einfach das iPhone um 180° drehe. Dann sehe ich die Schweizer Berge. Wenn das nicht hilft: Die “Landlust” gibts auch als Kennenlernpaket.